FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music | 1989-2004 |
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FMP CD 89 Victor Schonfield |
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Evan Parker ist ein Star des Free Jazz. Zunächst einmal ist er ein Virtuose. Das bedeutet nicht, dass er auf Spektakuläres setzt; tatsächlich fehlt ihm die Art von extrovertiertem Temperament, die so etwas zulassen würde. Trotzdem kann man ziemlich sicher sein, dass er im Laufe eines Konzerts einige Dinge tun wird, die nicht nur extrem schwierig sind, sondern auch absolut spektakulär. Außerdem ist er bemerkenswert konsequent. Viele improvisierende Musiker - sogar die besten - haben Schwierigkeiten, ihr optimales Level zu finden, so dass man als selektiver Hörer schließlich immer nur mit relativ wenigen Plattenaufnahmen dasteht. Und obwohl Evan Parker inzwischen einer der am häufigsten aufgenommenen Jazzmusiker ist, in den unterschiedlichsten Besetzungen, hält er eine hohe Trefferquote. Von den etwa 60 Aufnahmen, bei denen er im Vordergrund steht, die mir untergekommen sind, habe ich heute immer noch gut zwei Drittel. Um die ganze Bandbreite seiner veröffentlichten Aufnahmen würdigen zu können, ist die Evan Parker Discography von Francesco Martinelli Pflichtlektüre. Vor allem aber ist er kreativ. Bis zum Jahr 1970 hatte er eine einzigartige und zwingende Sprache auf seinen beiden Instrumenten gefunden und mehr als ein Vierteljahrhundert später ragt diese Sprache noch immer heraus. Und trotzdem könnte man sagen, dass all dies beinahe unwichtig ist gegenüber seiner größten Leistung, nämlich nicht Suchen und Erforschen eines persönlichen Stils, sondern beizutragen zur Entwicklung einer ganz neuen musikalischen Ausdrucksweise. Diese Ausdrucksweise ist das ganz besondere Konzept der kollektiven Improvisation, wie es das Spontaneous Music Ensemble (SME) 1967 unter der Leitung des verstorbenen John Stevens entwickelt hat, dokumentiert auf der SME CD Summer 1967 (Stevens-Parker Duo/Stevens-Parker-Peter Kowald Trio) auf Emanem 4005. Das Konzept war zunächst extrem rigoros. Die Musiker zielten nicht nur auf wahre Spontaneität ab, kein Nachahmen, keine Absprachen - sie versuchten auch absolut reine Ensemble-Musik zu spielen; jeder Musiker sollte die ganze Zeit über eine gleichberechtigte Rolle spielen, es sollte keine 'Leader' und keine Solisten geben. John Stevens vertrat die Ansicht, jeder solle Begleitmusiker sein, und die beste Haltung zum Spielen wie auch zum Zuhören sei es, sich auf das Verhältnis zwischen den Musikern zu konzentrieren. Es blieben nur wenige mit dieser 'reinen' Gruppen-Musik beschäftigt; mit der Zeit ging man zu einer lockereren, weniger fordernden Version dieser Grundhaltung über. Diese informelle Art der freien kollektiven Improvisation ist als gemeinsame Sprache eines ganzen Heeres von improvisierenden Musikern in der ganzen Welt akzeptiert worden. Es ist hier nicht der Ort zu klären, inwieweit diese Sprache von John Stevens und seinen Mitstreitern stammt, und welche anderen Quellen vielleicht noch in Betracht gezogen werden sollten. Aber eines ist klar - wann immer zwei oder mehr Musiker auf diese Art und Weise anfangen Musik zu machen, sind sie Teil einer Entwicklung, einer deren Pioniere Evan Parker ist. Obwohl alle schon zusammen gespielt hatten, kamen die Musiker erst gegen Ende 1969 zum ersten Mal als Quartett zusammen; seitdem gab es mehrere gemeinsame Auftritte. Evan Parker zufolge kommen alle Mitglieder aus der Londoner Schule um John Steven's Spontaneous Music Ensemble, und die ganze Aufnahme spiegelt diesen Einfluss wieder. Gerade deshalb wird dem Hörer sofort auffallen, dass vier Stücke mit unbegleiteten Soli anfangen, nach denen der jeweilige Solist aussetzt, und die drei übrigen Musiker gemeinsam weiter spielen. Abgesehen von dieser Rahmenbedingung wird uneingeschränkt improvisiert. Außerdem sei betont, dass alles, was man hört, genau so belassen ist, wie es aufgenommen wurde. Es wurde nichts herausgeschnitten oder zusammen geschnitten - es wurde lediglich eine Auswahl mancher Stücke zugunsten anderer getroffen, darunter einige Duo-Aufnahmen. John Russell, der Half und Half mit einem Solo eröffnet, wurde am 19. Dezember 1954 geboren. Er wuchs bei seinen Großeltern in Kent auf und hatte erste Auftritte als Rockgitarrist während seiner Zeit in der Ashford Grammar School. Er nahm ein Jahr lang konventionellen Gitarrenunterricht, ist aber ansonsten vollkommener Autodidakt. Mit 17 zog er nach London, fand sehr schnell zu John Stevens Little Theatre Club Sessions und nahm auch bald teil. Abgesehen von seiner Duo CD mit Roger Turner Birthdays (Emanem 4010) von 1996 ist John sehr glücklich über seine Aufnahmen mit John Butcher und Phil Durrant - Conceits (Acta 1, eine Trio-LP aus dem Jahr 1987), News From the Shed (Acta 4 - eine Quintett-LP von 1989) und Concert Moves (Random Acoustics 001 - eine Trio-CD aus den Jahren 1991-92). John spielt ausschließlich akustische Gitarre. Der Solist des Titelstückes, John Edwards, wurde am 30. Mai 1964 in Hounslow, West London geboren. Er begann als Schlagzeuger in Rock- und Popgruppen und baute Holzinstrumente. Auf einem Company Konzert 1985 hörte er zum ersten Mal freie Musik; erst 1987 begann er Bass zu spielen. Er spielt auf verschiedenen Aufnahmen mit den B Shops For the Poor, God und den Pointy Birds; die vorliegende CD ist die einzige Dokumentation seiner derzeitigen Arbeit. Mark Sanders, der den Titel Mayday eröffnet, wurde am 31. August 1960 in Beckenham, Süd-London geboren. Ebenfalls Autodidakt, begann er als Schlagzeuger in Popgruppen und hatte seine ersten Auftritte mit 18 auf RAF-Stützpunkten in Deutschland. Durch Paul Rogers kam er zum Jazz und zur freien Musik; sein Haupteinfluss ist Will Evans. Er spielt in verschiedenen Besetzungen, hat Aufnahmen mit Elton Dean, Roswell Rudd, Spirit Level, John Lloyd gemacht und spielt Kompositionen für Tänzer von Steve Blake (mit den Cholmondeleys und den Featherstonhaughs). London Air Lift bezieht sich natürlich auf die Berliner Luftbrücke von 1948, als Russland die Landzugänge nach West Berlin blockierte und Großbritannien, Frankreich und Amerika ihre Besatzungszonen in der Stadt durch die Luft versorgt hielten. Ein halbes Jahrhundert später geht die Hilfe in die entgegen gesetzte Richtung: Londoner Musiker müssen einer Berliner Plattenfirma danken für die Gelegenheit, diese CD aufzunehmen. London Air Lift kann auch bedeuten, 'die Luft über London heben' - was einerseits heißen kann, dass die Luft drückend ist oder andererseits, daß sie ganz einfach schwer ist. Auf jeden Fall findet Evan, dass sowohl der Titel als auch die Musik ein "up-feeling" vermitteln und ihn daran erinnern, was Thelonious Monk zu Steve Lacy sagte, als der in seiner Band spielte: "You have to raise the bandstand!" (Etwa: "Die Bühne muss abheben./Du musst die Bühne abheben lassen!") The Drop, ein Titel von John Edwards, folgt nur allzu offensichtlich als der einfachste Weg, Dinge aus der Luft zurück auf die Erde zu bringen. Wieder aber ist der Titel mehrdeutig. Er kann auch 'einen Schluck trinken' bedeuten, oder 'wieder auf die Erde kommen', eine Rückkehr zur Realität. Als nächstes beginnt Evan Parker alleine. Der Titel Neighbouring Instances stammt von John Russell, der sagt, er habe an eine Hyperspace-Reise gedacht, und daran, dass eine Gegebenheit sofort und unverzüglich zu einer anderen führt. One Thousand Clicks - for John Stevens ist eigentlich der Name eines Stückes, das hier gar nicht gespielt wird, ein Stück, das von John Steven's Komposition Click Piece inspiriert wurde. Weil aber alle den Wunsch hatten, John Stevens zu gedenken, wurde der Titel beibehalten, obwohl man beschloss, die Musik nicht zu verwenden. Und schließlich Rough Diamond - Harry - ein Tribut an einen Jazzfan. Harry Diamond - Fotograph, Bohemien, Künstlermodel und Gegenstand eines bekannten Porträts von Lucien Freud. Harry Diamond lebt heute noch irgendwo in Soho und Evan Parker beschreibt ihn als "einen sehr kostbaren kleinen Teil der Londoner Jazzszene". Übersetzung: Isabel Seeberg & Paul Lytton |
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