FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 88

Markus Müller

 

1991 erteilte das Jazzfest Middelheim (Antwerpen) Fred Van Hove einen Kompositionsauftrag für "ein großes Ensemble". Van Hove erweiterte daraufhin seine erprobten Arbeitssituationen. Ausgehend von zwei Trios, mit denen der Belgier seit 1984 (MLB lll = Musica Libera Belgicae, mit André Goudbeek und Ivo Vander Borght) bzw. 1988 (Bauer, Van Hove, Nozati) auftritt, ergänzte er sein neues, großes Ensemble um Charig und Rutherford (mit denen Van Hove seit 1979 in MLA Blek = Musica Libera Antverpiae Blech, spielt), den Schweizer Tubisten Benoît Viredaz sowie ("... Zweiter Saxophonist war mir sofort klar ...", Fred Van Hove) Evan Parker. Die Berliner Ausgabe des "'t NONET" ist gegenüber dieser Ursprungsformation auf zwei Positionen verändert: Axel Dörner ersetzt Marc Charig und John Butcher spielt für Evan Parker (sind mir sofort klar). An der offensichtlichen Grundstimmung, vier Blechinstrumente und nur zwei Saxophone, änderte sich nichts.

In Middelheim spielte die Gruppe die "Suite von Antwerpen", eine Idee, wie Fred Van Hove schrieb, "... die ich schon länger hatte, um die verschiedenen Teile meiner Stadt in Klang zu setzen: den Zoo, den Zentral Bahnhof, den Hafen, den Fluss ... Es war natürlich nicht die Absicht Programmmusik zu machen, die Stadt und ihre typischen Klänge waren nur eine Richtschnur. Die Musiker haben nie gewusst in welchem Stadtteil wir waren. In der Komposition habe ich auch versucht, soviel wie möglich Platz zu lassen für die wunderbaren improvisatorischen Kräfte der beteiligten Musiker."

"Suite for B ... City" entwirft ebenfalls eine Landkarte mit kompositorischen Knotenpunkten und improvisatorischen Spielwiesen. Ihr Ort ist die Geschichte der modernen Musik. Und zwar der kompositorische und spielerische Umgang mit den Phänomenen Organisation und Zufall seit Ligetis "Atmosphères" von 1961. Ligetis Interesse galt Strukturen im Strukturlosen, d. h. er wollte eine Klangtextur entwickeln, die akustisch steht und das heißt, dass der Wechsel von akustischen Ereignissen und Pausen aufgehoben werden sollte. Ereignis und Pausen sollten so zusammenfallen, dass ein pausenloses Fortschwingen erklingt, das aber nur Hintergrund bleibt, vor dem nichts passiert, jedenfalls scheinbar genauso wenig passiert wie in Pausen. Die zarten Cluster, die getupften Klangkomplexe, mit dem Van Hoves "'t NONET" die Suite eröffnet, sind ein solcher Hintergrund, nur dass sich vor diesem Hintergrund mehr ereignet, als während der meisten Vorführungen zeitgenössischer Musik. Wenn Ligeti "zu stehen scheint", bewegt sich Van Hove gezeitengleich, legt Ebbe und Flut. Und zwar so, dass die Strudel und Strömungen der Improvisationen aus einer selbstverständlichen Organisation erwachsen. Die Organisation der Klänge, das zeigt sich bald, ist präzise. Die Folge von organisierten Klangereignissen und "freier Improvisation", das zeigt sich unwesentlich später, ist ebenfalls sehr präzise, der Hörer erlebt und das ist bekanntermaßen die unmittelbare Folge der gelebten Praxis und Methode Improvisation "mehr Finden als Suchen".

Die Folge der Soli, Duos, Trios ist keineswegs zufällig, sondern ein Spiegelspiel der z. T. über zwanzigjährigen gemeinsamen Musizier Erfahrung. Die trägt die sexy Klangstoffanalyse des "Newcomers" John Butcher als Gestalt gewordene englische Improvisation genauso zu Gehör wie das expressive exorzistisch-exzerzitienische Zusammenspiel (Elisabeth Schwarzkopf auf Cronenbergisch) zwischen Van Hove und Annick Nozati. Und dass sich dieser ganz normale Wahnsinn in ein "... sanftes Bettchen ..." (Van Hove) für André Goudbeek entwickelt, eine zunächst prä-raffaelitisch romantische, dann postromantische Altsaxophon-Ballade mit Schmalz, auch Tränen, die in ihrem weiteren Verlauf vom Kukident Haft-Gel alles abverlangt und einen Paradigmenwechsel innerhalb der Suite bedeutet, ist nur normal für Hörer die Belgische Waffeln schon mal gegessen haben. Spätestens hier (33'40'') wird die Organisation-Zufall-Obsession in all ihren fruchtbaren Möglichkeiten offenbar.

Van Hove organisiert "'t NONET" vom Ligetischen Gezeitenhauch über deklamatorische Blockbildungen zu protestantischen Albert Ayler-Arrangements (einer klang-gewordenen Kritik der teleologischen Urteilskraft), sizilianischen Prozessionsmärschen bis zum Wuppertaler Jahrmarkt / Local Fair (s. die Globe Unity Orchestra-Aufnahme gleichen Titels auf Po Torch Records, PTR/JWD 2). Das sind ganz vertraute Landmarken, die man da hinter jeder Wegbiegung immer wieder neu zu entdecken meint: das Leben, eine Gebrauchsanweisung nach Fred Van Hove mit 88 Tasten um die ganze Welt. Selbstverständlich erklingt da keine Programmmusik, man weiß wirklich nicht genau, in welchem Stadtteil man sich befindet, aber man weiß, dass man zu Hause ist!

Und in diesem Haus begegnen einem dann immer wieder überraschend unbekannte alte Bekannte. Van Hoves Organisation ermöglicht die besten Zufälle, seine kompositorischen Folien lassen nicht Platz, sie definieren und ermöglichen den Platz für wunderbare Improvisationen.

Damit klingt hier auch eine banale Binsenweisheit: totale Organisation, Komposition, bedeutet, dass das Stück dem Komponisten aus der Hand rutscht. Totaler Zufall bedeutet die Freiheit, auf die Sunny Murray augenzwinkernd verwies: "Gib 'nem Mann an der Straßenecke irgendwas mit dem er auf 'ner Mülltonne rumtrommeln kann, das ist freie Musik und grauenhaft". Spannend ist, wenn das eine das andere bedingt und umgekehrt, spannend ist, wenn Fred Van Hove so was organisiert.

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