FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 86

Interview Thomas Adank mit Rüdiger Carl/Radio DRS

 

Adank: Wie bist du auf das Akkordeon gestoßen?
Carl: In der Nachkriegswelt, als in Europa noch alles in Schutt und Asche lag, kam meine Großmutter aus Ostpreußen, wo auch ich noch geboren bin, mit so einer Quetschkommode unterm Arm daher- da war ich um die fünf Jahre alt - und hat sie mir geschenkt, nachdem sie mir kurz gezeigt hatte wie so was funktioniert. Ich war nachhaltig fasziniert von diesem roten Ding, dem fauchenden Balg, den Perlmuttknöpfen und diesen schillernden Tönen.
Es trieb sieh damals in unserer Gegend ein undurchsichtiger Kerl herum, ein Blinder oder einäugiger Bettler, vor dem die Mädchen zuhause gewarnt wurden, und der auch auf so einer Ziehharmonika spielte und dazu sehr eigen sang für Schnaps, Zigaretten und Kleingeld in der tristen Peripherie von Kassel, wo wir als Flüchtlinge gelandet waren. Ich habe ihn oft verstohlen und aus sicherer Entfernung zu seiner schweren Alkoholfahne beobachtet und bei ihm gelernt. Ich habe also mit der Ziehharmonika angefangen; das größere Akkordeon kam als ich sieben war auf den Gabentisch. Zu Unterrichtsdingen, sogar kostenlos angebotenen zwecks selbstloser Talentförderung, hatte ich von Beginn an ein sperriges Verhältnis; ich konnte mir viel schneller etwas nach dem Gehör einprägen und nachspielen, als mich durch Linien, Pünktchen und Fähnchen zu boxen. Das schien mir doch ein sehr umständliches Verfahren, wo ich doch rasch im Bilde war, wenn mir nur jemand etwas vorpfiff.
A: Wenn du heute improvisierst, sei es nun mit dem Akkordeon oder der Klarinette, wie läuft das denn ab?
C: Ja, wenn man das so klar wüsste; vermutlich funktioniert wohl alles auf einer para-assoziativen Ebene, von der ich annehmen darf, dass sie sich seit längerer Zeit schon für alles spontane Erfinden von Musik hergegeben hat. Mir ist klar geworden, dass beim Spielen die kritische Attitüde auf Ballhöhe gegenüber dem verfügbaren Material wichtiger ist, als beispielsweise eine abstrakte Logistik. Aber zuallererst strebt man ja nach dieser Art Temperatur, die einem hilft die Dinge ohne Verspannung in Bewegung zu bringen, und beim Entstehen werden sie dann geprüft und bearbeitet und bekommen vielleicht ihre angemessene Form.
A: Läuft beim Improvisieren bei dir ein innerer Film ab?
C: Womöglich gibt es so etwas. Was man aber vielleicht nicht wissen kann oder sogar soll ist, ob besagter Film soeben für die Cutterin abläuft, oder ob er gerade szenisch eingerichtet wird, welche Kamera und welche Einstellung bitteschön, oder ob man noch am Drehbuch schreibt. Diese verschiedenen Momente existieren oft gleichzeitig und tauschen sich im Spielprozess wohl auch noch chaotisch miteinander aus. Aber ich will die Improvisiererei nicht noch spannender machen, als sie ohnehin schon ist.
A: Ist es möglich beim Improvisieren Fehler zu machen?
C: Die Möglichkeit von Fehlern gibt es ja bei allen Tätigkeiten. In unserem Fall hilft vielleicht die mildere Formel vom menschlichen Irren, ich denke an so etwas wie Unkonzentriertheit, oder man will unbedingt etwas Bestimmtes und kommt da nicht hin, oder man ist in einer Idee festgefahren und fragt sich, ob man mit Gewalt da durch will. Aber wir haben uns doch in unserer Arbeitsweise enormer Freiheiten versichert, die uns erlauben wirklich großzügig zu manövrieren. Man kann zwar auch beim freien Improvisieren nichts rückgängig machen, aber unser Metier hat die rare Qualität, uns vor Ort nahezu jegliche spontane Bemessung und alle denkbaren harten Schnitte zu erlauben.
A: Neben dem Spieler und dem Publikum gibt es eine dritte wesentliche Größe: den Ort.
C: Gut, nehmen wir den aktuellen Fall, die leere Fabrikhalle der Adlerwerke, die ich im Juni 95 bespielt habe, und die ich mir schon einige Wochen vorher angesehen und deren schwere hallige Akustik ich mit der Klarinette kurz ausprobiert hatte. Da waren noch diese Gerüche und die spezielle Atmosphäre einer riesigen Fertigungshalle, wo hunderte Arbeiter in Hitze und Maschinenlärm gearbeitet hatten. Vom nahen Hauptbahnhof hört man Züge und durch die zerbrochenen Fenster wehte der Wind den Staub auf. Als ich die Wahl hatte zwischen der Bühne des Gallus-Theaters und dieser Halle, war die Entscheidung für mich klar. Ich war neugierig auf die Möglichkeiten, mich in dieser Akustik zu bewegen, Töne da rein zuschießen und wie Drachen steigen und flattern zu lassen.
A: Nun zu Woyzeck. Kannst Du die Worte noch hören: "Langsam Woyzeck, langsam. eins nach dem andern; er macht mir ganz schwindlig …"
C: Na ja, ich war damit ziemlich schnell satt. Ich bin auch nicht gerade ein eingeübter Aspirant für ständige Wiederholung; das widerspricht eigentlich meinem ganzen System.
A: Hattest Du denn nicht das Problem der Wiederholung bei deinen fast 50 Ouvertüren in den Bad Godesberger Kammerspielen?
C: Keineswegs. Lediglich das Verfahren und das Drumherum hatten ihre strikten Folgen. Ich hatte also meine Stoppuhr da liegen und wenn das Licht ausging, begann ich in meinem Versteck an der Bühnenseite zu spielen, mit der Maßvorgabe etwa einer Minute; dann begann das eigentliche Schauspiel, übrigens auch mit etwa 20 Kurzmusiken von mir ausgestattet.
A: Hast Du den Auftrag übernommen, weil Du Geld nötig hattest? Spielte Deine Beziehung zu Büchner dabei eine Rolle?
C: Geld habe ich wie jeder immer nötig. Und obwohl ich kein besonderes Interesse an Theatermusik habe, hat mich der Regisseur Valentin Jeker für seine Inszenierung des Büchner-Stückes gewonnen, die ja auch sehr erfolgreich war. Er ließ mir völlig freie Hand für die musikalische Gestaltung und Ausführung.
Bei der Realisierung der improvisierten Einleitungsmusiken, die dem Prinzip links/rechts und von hoch nach tief folgen, habe ich ohne weiteres die Atmosphäre des Stückes und die allgemeine Melancholie der Buhnenarbeit an mich heran gelassen, aber wenn sie auch ein gemeinsames Grundmotiv erkennen lassen, so sind sie doch alle sehr verschieden und über viele Wochen hinweg gespielt worden.
A: Sind diese Kurzstucke zusammen zu hören oder als Einzelwerke?
C: Die eigentliche Idee meint schon das Hintereinanderhören. Aber ich habe für alle Fälle den Miniaturen einzelne Titel gegeben, übrigens sämtliche Frankfurter Stadteile die mit -heim enden und das Westend als Bezirk in dem ich wohne. Das mag bedeuten, wir sind zwar einzeln aber gehören doch zusammen, und zudem war der Georg Buchner aus dieser südhessischen Gegend gebürtig.

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