Adank: Wie bist du auf das Akkordeon gestoßen?
Carl: In der Nachkriegswelt, als in Europa noch alles in Schutt und Asche
lag, kam meine Großmutter aus Ostpreußen, wo auch ich noch
geboren bin, mit so einer Quetschkommode unterm Arm daher- da war ich
um die fünf Jahre alt - und hat sie mir geschenkt, nachdem sie mir
kurz gezeigt hatte wie so was funktioniert. Ich war nachhaltig fasziniert
von diesem roten Ding, dem fauchenden Balg, den Perlmuttknöpfen und
diesen schillernden Tönen.
Es trieb sieh damals in unserer Gegend ein undurchsichtiger Kerl herum,
ein Blinder oder einäugiger Bettler, vor dem die Mädchen zuhause
gewarnt wurden, und der auch auf so einer Ziehharmonika spielte und dazu
sehr eigen sang für Schnaps, Zigaretten und Kleingeld in der tristen
Peripherie von Kassel, wo wir als Flüchtlinge gelandet waren. Ich
habe ihn oft verstohlen und aus sicherer Entfernung zu seiner schweren
Alkoholfahne beobachtet und bei ihm gelernt. Ich habe also mit der Ziehharmonika
angefangen; das größere Akkordeon kam als ich sieben war auf
den Gabentisch. Zu Unterrichtsdingen, sogar kostenlos angebotenen zwecks
selbstloser Talentförderung, hatte ich von Beginn an ein sperriges
Verhältnis; ich konnte mir viel schneller etwas nach dem Gehör
einprägen und nachspielen, als mich durch Linien, Pünktchen
und Fähnchen zu boxen. Das schien mir doch ein sehr umständliches
Verfahren, wo ich doch rasch im Bilde war, wenn mir nur jemand etwas vorpfiff.
A: Wenn du heute improvisierst, sei es nun mit dem Akkordeon oder der
Klarinette, wie läuft das denn ab?
C: Ja, wenn man das so klar wüsste; vermutlich funktioniert wohl
alles auf einer para-assoziativen Ebene, von der ich annehmen darf, dass
sie sich seit längerer Zeit schon für alles spontane Erfinden
von Musik hergegeben hat. Mir ist klar geworden, dass beim Spielen die
kritische Attitüde auf Ballhöhe gegenüber dem verfügbaren
Material wichtiger ist, als beispielsweise eine abstrakte Logistik. Aber
zuallererst strebt man ja nach dieser Art Temperatur, die einem hilft
die Dinge ohne Verspannung in Bewegung zu bringen, und beim Entstehen
werden sie dann geprüft und bearbeitet und bekommen vielleicht ihre
angemessene Form.
A: Läuft beim Improvisieren bei dir ein innerer Film ab?
C: Womöglich gibt es so etwas. Was man aber vielleicht nicht wissen
kann oder sogar soll ist, ob besagter Film soeben für die Cutterin
abläuft, oder ob er gerade szenisch eingerichtet wird, welche Kamera
und welche Einstellung bitteschön, oder ob man noch am Drehbuch schreibt.
Diese verschiedenen Momente existieren oft gleichzeitig und tauschen sich
im Spielprozess wohl auch noch chaotisch miteinander aus. Aber ich will
die Improvisiererei nicht noch spannender machen, als sie ohnehin schon
ist.
A: Ist es möglich beim Improvisieren Fehler zu machen?
C: Die Möglichkeit von Fehlern gibt es ja bei allen Tätigkeiten.
In unserem Fall hilft vielleicht die mildere Formel vom menschlichen Irren,
ich denke an so etwas wie Unkonzentriertheit, oder man will unbedingt
etwas Bestimmtes und kommt da nicht hin, oder man ist in einer Idee festgefahren
und fragt sich, ob man mit Gewalt da durch will. Aber wir haben uns doch
in unserer Arbeitsweise enormer Freiheiten versichert, die uns erlauben
wirklich großzügig zu manövrieren. Man kann zwar auch
beim freien Improvisieren nichts rückgängig machen, aber unser
Metier hat die rare Qualität, uns vor Ort nahezu jegliche spontane
Bemessung und alle denkbaren harten Schnitte zu erlauben.
A: Neben dem Spieler und dem Publikum gibt es eine dritte wesentliche
Größe: den Ort.
C: Gut, nehmen wir den aktuellen Fall, die leere Fabrikhalle der Adlerwerke,
die ich im Juni 95 bespielt habe, und die ich mir schon einige Wochen
vorher angesehen und deren schwere hallige Akustik ich mit der Klarinette
kurz ausprobiert hatte. Da waren noch diese Gerüche und die spezielle
Atmosphäre einer riesigen Fertigungshalle, wo hunderte Arbeiter in
Hitze und Maschinenlärm gearbeitet hatten. Vom nahen Hauptbahnhof
hört man Züge und durch die zerbrochenen Fenster wehte der Wind
den Staub auf. Als ich die Wahl hatte zwischen der Bühne des Gallus-Theaters
und dieser Halle, war die Entscheidung für mich klar. Ich war neugierig
auf die Möglichkeiten, mich in dieser Akustik zu bewegen, Töne
da rein zuschießen und wie Drachen steigen und flattern zu lassen.
A: Nun zu Woyzeck. Kannst Du die Worte noch hören: "Langsam
Woyzeck, langsam. eins nach dem andern; er macht mir ganz schwindlig
"
C: Na ja, ich war damit ziemlich schnell satt. Ich bin auch nicht gerade
ein eingeübter Aspirant für ständige Wiederholung; das
widerspricht eigentlich meinem ganzen System.
A: Hattest Du denn nicht das Problem der Wiederholung bei deinen fast
50 Ouvertüren in den Bad Godesberger Kammerspielen?
C: Keineswegs. Lediglich das Verfahren und das Drumherum hatten ihre strikten
Folgen. Ich hatte also meine Stoppuhr da liegen und wenn das Licht ausging,
begann ich in meinem Versteck an der Bühnenseite zu spielen, mit
der Maßvorgabe etwa einer Minute; dann begann das eigentliche Schauspiel,
übrigens auch mit etwa 20 Kurzmusiken von mir ausgestattet.
A: Hast Du den Auftrag übernommen, weil Du Geld nötig hattest?
Spielte Deine Beziehung zu Büchner dabei eine Rolle?
C: Geld habe ich wie jeder immer nötig. Und obwohl ich kein besonderes
Interesse an Theatermusik habe, hat mich der Regisseur Valentin Jeker
für seine Inszenierung des Büchner-Stückes gewonnen, die
ja auch sehr erfolgreich war. Er ließ mir völlig freie Hand
für die musikalische Gestaltung und Ausführung.
Bei der Realisierung der improvisierten Einleitungsmusiken, die dem Prinzip
links/rechts und von hoch nach tief folgen, habe ich ohne weiteres die
Atmosphäre des Stückes und die allgemeine Melancholie der Buhnenarbeit
an mich heran gelassen, aber wenn sie auch ein gemeinsames Grundmotiv
erkennen lassen, so sind sie doch alle sehr verschieden und über
viele Wochen hinweg gespielt worden.
A: Sind diese Kurzstucke zusammen zu hören oder als Einzelwerke?
C: Die eigentliche Idee meint schon das Hintereinanderhören. Aber
ich habe für alle Fälle den Miniaturen einzelne Titel gegeben,
übrigens sämtliche Frankfurter Stadteile die mit -heim enden
und das Westend als Bezirk in dem ich wohne. Das mag bedeuten, wir sind
zwar einzeln aber gehören doch zusammen, und zudem war der Georg
Buchner aus dieser südhessischen Gegend gebürtig.
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