FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 85

Markus Müller

 

DIG IT!
Steve Lacy, 5 PianistInnen und Musik und Architektur

1. S, M, L, XL, XXL
"You've got to dig it, to dig it. You dig it?"
hat Thelonious Monk zu Steve Lacy gesagt. Steve Lacy ist heute nicht nur einer der beiden wichtigen Sopransaxophonisten dieses Jahrhunderts, er ist auch der wichtigste Interpret der Musik von Thelonious Monk. Anders als die Marsalisianer vertritt Lacy eine Avantgarde, die zur Erforschung und Erklärung der Vergangenheit beiträgt und sich dabei eine Zukunft erarbeitet, die frei ist von totalitären Visionen. Monk ist in diesem Sinne dankbarer Forschungsgegenstand, sind seine Stücke doch Kompositionen der Güteklasse 1A und sicher Meilensteine in der Musik dieses Jahrhunderts. Monks besondere Qualität ist hin und wieder mit einem der Kernstücke der Moderne, genauer der Architektur des 20. Jahrhunderts, beschrieben worden, jenem legendären Diktum vom "Less Is More". Lacy ist wie Monk immer wieder unter dieser Überschrift verhandelt worden: Tatsächlich entwickelt sich das, was zunächst Weniger zu sein scheint, bei beiden früher oder später in ein wunderbares Mehr. Das erinnert dann nicht an Mies' Barcelona Pavillon, sondern an MC Eschers Labyrinthe. So wird aus Lacys Small ein Medium, ein Large, ein Extra-Large, ein Extra-Extra-Large usw.: Sie können es wachsen hören, diese Klangarchitektur wächst aus soliden Bausteinen. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, das Lacys sichere architektonische Handfertigkeit zu einer Zeit in Berlin zu hören ist, in der die Hauptstadt sich ganz in "Architainment" verliert und behauptet die Moderne zu erfüllen und sie doch nur mit Spekulantenhand vollstreckt.

Mindestens einer der fünf Duopartner, mit denen Lacy diese CD eingespielt hat, hat sich auch schon eine Menge Gedanken um Thelonious Monk gemacht: der niederländische Komponist, Pianist und Monk-Exegete Misha Mengelberg, der seine jahrelange Auseinandersetzung mit Monk nicht zuletzt als eine Frage der Hygiene bezeichnet hat: "first you have to tidy up what's still there" 1).

Und natürlich spielen die beiden in ihrem gemeinsamen Set am 5. April 1996 im Rahmen des "Workshop Freie Musik" Kompositionen von Monk. Drei davon sind hier veröffentlicht. Diese Stücke wurden bereits mehrfach sowohl von Lacy als auch von Mengelberg interpretiert: "Evidence" ist so etwas wie Steve Lacys Hausnummer und das Duo klingt hier weniger nach Reinigungskolonne, sondern erinnert an jenen unendlich tiefen, matten, unergründlichen, trockenen, zeitlosen und doch strahlenden Glanz, wie er in der Glasierung eines japanischen Teegefäßes sichtbar wird.
S, M, L, XL, XXL.

2. Homepage
Vom 4. bis 8. April 1996 veranstaltete die "Free Music Production" in Berlin den "Workshop Freie Musik". Neben Steve Lacy, der an allen fünf Abenden auftrat, waren fünf PianistInnen eingeladen mit ihren Bands, respektive von ihnen zusammengestellten Projekten je einen Abend zu gestalten. Ein Duo von Lacy mit jedem dieser fünf PianistInnen war fester Bestandteil des Programms. Vladimir Miller und Marilyn Crispell hatten vorher noch nicht, Ulrich Gumpert, Misha Mengelberg, und Fred Van Hove dagegen hatten bereits mehrfach mit Lacy gespielt.

Lacy, der das Jahr 1996 als Gast des "DAAD" in Berlin verbringt, war (durch jahrzehntelange Praxis) nicht nur bestens mit den Spielregeln eines "Workshops" vertraut, er war auch, so schien es mir beim Besuch der Konzerte, außergewöhnlich relaxed.

Aus den an diesen Abenden ausgespielten Duos entstand die vorliegende CD. Dabei entspricht die Reihenfolge der hier veröffentlichten Stücke konsequenterweise nicht der tatsächlichen Reihenfolge der Auftritte, sondern gehorcht einer eigenen Logik. Neben den bereits erwähnten drei Monk-Kompositionen sind vier Lacy-Stücke eingespielt worden. Einzig "Twenty One", das Stück mit Fred Van Hove, ist "frei improvisiert". Lacy probte während des "Workshops" mit drei der fünf PianistInnen am Nachmittag vor dem Auftritt. Mit Van Hove und Mengelberg verzichtete er auf die Probe und spielte vielleicht Go.

Go ist ein altes chinesisches Spiel, bei dem es um Territorien geht. "Es geht darum, die offenen Räume zu benutzen, die Felder, auf denen weder weiße noch schwarze Steine sind, die Steine werden übrigens Augen genannt. Um diese Räume zu schaffen, muss man um sie kämpfen. Go ist ein großartiges Brettspiel mit einer dem Schach vergleichbaren Komplexität. Es ist ein sehr altes Spiel, das im 16. Jahrhundert in Japan auf allerhöchstem Niveau gespielt wurde. Um die Struktur von Tokyo zu verstehen, einer Stadt, deren Zentrum leer ist, sollte man Go spielen. Es scheint mir, dass die der Stadt Tokyo zugrunde liegende Idee direkt aus diesem Spiel entstand. In Tokyo finden die wirklich wichtigen Ereignisse dort statt, wo nichts ist".2) Es kann nicht schaden, sich der Bedeutung des nichträumlichen Raums gewahr zu sein, wenn man die Musik von Lacy und seinen KumpanInnen hört.

3. All that mother Jazz
Lacy hat in seiner Musikgeschichte das ganze Jahrhundert des Jazz gespielt. "Five Facings" ist m. E. die erste CD (mit der Ausnahme der von Lacy als Begleitung zu seiner Saxophonschule konzipierten, aus vielerlei Quellen zusammen editierten Doppel-CD "Findings"), auf der alle Möglichkeiten, die Lacy mit seinem Sopran entwickelt hat, in jeder Hinsichtperfekt zu hören sind. Es gelingt Lacy mit dem spröden Charme, der Genauigkeit und Präzision eines Steuerprüfers in all diesen Möglichkeiten große Gefühle auszudrücken. Der "Blues for Aida" mit Marilyn Crispell ist dabei ein hervorragendes Beispiel für eine im Grunde banale, naive Melodieführung, die aber durch ihre Interpretation eine Luzidität, sanfte Intensität und existentialistische Absolutheit erfährt als reise sie durch ein Wunderland. Crispell trägt diese Lacytüde mit herzerweichender Reduktion: After hours und keine Fragen, der Blues als anthropologische universelle Erfahrung.

Die Stücke mit Mengelberg sind nichts als Meisterwerke. Lacy, der eine Zeitlang mehr Monk-Titel (54 um genau zu sein) in seinem Repertoire hatte als Monk selbst (ca. 30), trifft auf DEN kongenialen Partner. Das Ergebnis ist die Essenz von Interpretation. Witz, Melancholie, Raffinesse und Genialität beweisen die ungebrochene Zeitgenossenschaft des Systems Monk. Lacy und Mengelberg geben uns im burlesken Schwindel gegenläufiger Achterbahnen den Beweis, dass das Leben auch nach Beckettschem Erkenntnisstand ein Vergnügen sein kann.

Gumpert spiegelt Lacys faszinierende Rationalität in den ersten Takten von "Art" durch eine noch europäischer anmutende stechende Schärfe. Seine Improvisation entwickelt allerdings Tynereske Modalverschiebungen, seine glissandierenden Arpeggios werden zu wunderschön opulenter impressionistischer Klangmalerei, dabei steht Lacys Minimalismus vor der akustischen Folie eines Füllhorns, das unweigerlich an die zwingende Dynamik des klassischen Coltrane-Quartetts erinnert.

Mit Van Hove extemporiert Lacy die Möglichkeiten der so genannten freien Improvisation. Beide Spieler greifen in die bunte Palette ihrer typischen Erweiterungen der ursprünglichen instrumentaltechnischen Bedingungen. Lacy produziert seine abstrakten, zum Teil onomatopoetischen Geräusche, überbläst, saugt am Blatt und benutzt das geräuschhafte Spektrum seines Spiels in der auf "Five Facings" so plausibel nachvollziehbaren Struktur bildenden Weise. Van Hove konstruiert mit Hilfe einer perfekten Pedaltechnik ein sich ständig öffnendes, atmendes und abgedämpftes Cluster-Bauhaus. Lacys Eindeutigkeit wird durch Van Hoves Energie Andeutungen umso ausgeprägter. Mit seinen Melodiekürzeln und Akkordblöcken legt Van Hove ein vielschichtiges Netz aus, das sich im Dialog mit Lacy vor allem rhythmisch permanent entwickelt. Es entsteht der Eindruck eines durchschaubaren Irrgartens, der Hörer weiß in jedem Moment der Musik an welcher Stelle er sich befindet, d. h. weil er glaubt er wüsste wo er sich befindet, kann er sich der sorgfältigen Konstruktion des Irrgartens um so lustvoller hingeben. D. h. auch, das "Twenty One" die Missverständnisse der Diskussion um die frei improvisierte Musik reflektiert. Beide Musiker können sich so frei bewegen, weil ihr Partner immer zu ahnen scheint, wohin sie sich bewegen und mit diesem Wissen. "Twenty One" ist kommunikationstechnisch betrachtet also eines der seltenen besten Beispiele dafür wie Bazon Brocks unstrittiges Aperçu "Wir müssen kommunizieren, weil wir uns nicht verstehen" überwunden werden kann. Lacy und Van Hove bewegen sich auf einer Meta-Ebene und mir scheint nur durch die Art der hier vorgestellten Musik (und vielleicht in großen Momenten des Basketballs) kann ein Wahrnehmer diese Meta-Ebene als Möglichkeit erfahren.

"The Wane", das Stück mit Vladimir Miller operiert auf einer erdnäheren Ebene. Miller konzentriert sich vornehmlich darauf Lacy zu begleiten. Lacy gleitet in Erinnerung an Johnny Hodges in nicht endenden seltsam-"indischen" Glissandi gleich dem "Silver Surfer" durch seine Melodie. Gerade in diesem Stück, das Lacy eine relativ konventionelle Basis gibt, spielt der Avantgardist sich durch die gesamte Geschichte seines Instruments, seiner Musik. Dig It!

1) Misha Mengelberg im Interview mit Mario Airo, in: Sonsbeek 93, hrsg.: Jan Brand,
Catelijne de Muynck und Valerie Smith, Sonsbeek 1993, S. 123.
2) S o.,S.123f-

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