FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 81

K. Leander Williams

 

Before the world,
before the beginning.
Just like was heard
Before the word

Phineas Mello


Bill Evans hat es bislang am besten gesagt: Im Jazz, geht es nicht um das Was, sondern um das Wie. Um zu verstehen, was er damit gemeint hat, musst Du das meiste über Bord werfen, was Dir die Welt über Kunst im engeren Sinne und über Musik im Allgemeinen erzählt, darüber, dass sie im wesentlichen revolutionär oder traditionell, ernste oder Unterhaltungsmusik, alt oder neu ist. Da Musik ein Sprachsystem mit seiner eigenen unwiderstehlichen Grammatik, Syntax und Wortschatz ist, kann sie Dinge nur andeuten; sie kann die Dinge nicht selbst verkörpern. Um es einfach zu formulieren, hat der Schlüssel zu irgendeinem Musikstil mehr mit der praxisorientierten Auswahl (wie würden Synkopen hier funktionieren? Kann ich die Stimmklänge verwenden?) der Musiker zu tun, als mit dem, was Leute mit ihr machen, nachdem diese Wahl schon getroffen worden ist.

Wie jede/r arbeitende Musiker/in weiß, hat das Publikum doch einen wesentlichen Einfluss. Nehmen Sie zum Beispiel die Leute, die am Ende des ersten und letzten Stuckes dieser Aufnahme - der allerersten Sammlung von Matthew Shipps Solo-Klavieraufführungen - applaudieren. (Übrigens, diejenigen von Euch, die Shipps erste Soloaufnahme, Symbol Systems, besitzen, mögen wohl überrascht sein, zu hören, dass sie eigentlich erst Monate nach dieser Aufnahme aufgenommen wurde). Obwohl es sowieso sehr wahrscheinlich ist, dass viele der Leute im Publikum applaudiert hatten, ohne dazu gedrängt worden zu sein, können wir doch gut heraushören, dass keiner wirklich dazu gedrängt werden musste. Hatten sie etwas Neues gehört? Es ist gut möglich, dass viele dort früher schon Cecil Taylor oder Keith Jarrett applaudierten; zwei von Shipps Klaviervorläufern, deren erstaunliche Soloklaviervermächtnisse noch großen Schatten über dieses Genre werfen. Mit diesem im Kopf wartete auf Shipp zu Beginn der Vorstellung die Frage, die genauso schwerwiegend wie veraltet ist: ist es möglich, die Aufmerksamkeit des Publikums zu halten, während ich meine eigenen Ansprüche beibehalte?

Wenn Before the World eine Deutung dessen ist, konzentriert sich für Shipp letzten Endes alles auf eine einzige Antwort: Selbstlosigkeit. ,,Auf einer Ebene, als Musiker, versuchst du, dich der Musik hinzugeben", hat er später gesagt, als er über diese Herausforderung nachdachte. (Zum einen leitet er sein eigenes Ensemble, er bildet aber auch in Gruppen, die von Multi-Rohrblatt-lnstrumentalisten wie Roscoe Mitchell und David S. Ware geleitet werden, das Rückgrat.) ,,Obwohl ich manchmal denke, dass ich so konzentriert und ,gerichtet' bin, dass das Spielen vor einem Publikum einfach nur heißt, die Musik atmen zu lassen", setzte er fort, "weiß ich doch, dass es komplizierter ist als das. Musik zu machen ist eine Art, in der Welt zu sein, daher hat natürlich auch deine Umgebung eine Wirkung auf dich. Da das Publikum dabei ist, muss es auch als Teil dieser Umgebung betrachtet werden".

Wie unterscheiden sich denn aber Liveaufnahmen von Studioaufnahmen? Before the World beinhaltet Ausschnitte beider Kontexte, musikalisch scheint die einzige Ungleichheit jedoch nur im Umfang zu bestehen. Viele der prächtigen Akkorde, pointilistischen Sprints und klingenden tiefen und mittellagigen Cluster der Liveaufnahmen (Nr. 1 und 5) können auch in den Kompaktstücken gehört werden, die das Zentrum dieser Platte ausmachen. Nur die Art und Weise der Annäherung ändert sich: im Konzert baut Shipp auf jede neue Idee auf, fügt neue Schichten hinzu, bis ein ganz neues Geschöpf hörbar wird. Dies steht im klaren Kontrast zu den knappen Verzierungen von Nr. 2 oder 3, in dem der Pianist sich mit nur einem Motiv auseinandersetzt und damit spielt, den ursprünglichen Gedankenstrom ausdehnt, ohne ihn dabei ins Unverkennbare rutschen zu lassen.

"lch glaube, dass es zwei sehr eigene psychologische Räume gibt, die du besetzen kannst, wenn du von einem Rahmen zum anderen hinüberwechselst", sagt Shipp. "Erstens, wenn du eine Platte machst, musst du bereits ein Konzept der Platte haben, die du machen willst. Ein Beispiel (dafür) ist jemand wie (der klassische Pianist) Glenn Gould, der einfach aufgehört hat, live zu spielen; er machte seine Platten, indem er seine einzelnen Aufnahmen geschnitten und zusammengefügt hat. In meinem Spielen sehe ich die zwei Seiten als getrennt an, aber gleichzeitig auch als ein Teil des Ganzen. Es ist wie die Zellen in deinem Körper - jede ist ein Ganzes, aber trägt zu etwas noch Größerem bei".

"lch versuche, meine Studioaufnahmen über die Zeit organisch weiterentwickeln zu lassen", sagte Shipp als er zu der Bedeutung der Titel gefragt wurde. "Es ist verbunden mit der Art und Weise, wie sich irgendetwas auf einer blanken Schultafel entwickeln mag - wie ein eigenes Wesen oder eine eigene Matrix auch etwas genauso Eigenes gebären kann. Auf einer Ebene hat es 'was mit meiner Art des Übens zu tun: im Grunde arbeite ich mit verschiedenen Fundamenten und Übungen, anstatt für mich privat zu spielen. Da dieses mein erstes Solokonzert war, arbeitete ich eigentlich mit Stücken aus der klassischen Literatur - meistens barocke Sachen, um meine Hände daran zu gewöhnen, wirklich das ganze Klavier zu benutzen. Dieses hat mein Denken in andere, neue Richtungen gelenkt, und jetzt möchte ich wirklich daran arbeiten".

Übersetzung: Aud Itta Sauer und Bruce Carnevale

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