FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 80

Nick Dmitriev

 

BIOSYNTHESE - HISTORIE, STORY, MYSTERIUM
LEERE WORTE

Während der langen Geschichte der Menschheit gehörte es zum Wesen menschlicher Natur, eine Vielfalt unterschiedlicher Formen verbaler Sprachen zu entwickeln. Das gemeinsame Band zwischen all diesen Sprachen ist die Tatsache, dass sie Worte und Wortkombinationen und deren Bedeutungen benutzen.
Worte sind notwendig, um Bedeutungen zu vermitteln, doch nicht selten verdunkeln sie den Sinn. Und immer, wenn wir Worte benutzen, leben wir durch sie, machen wir unseren Weg im Reich der Sinne, zuverlässig isoliert und geschützt vor uns selbst durch einen Zaun von Worten.
Doch das war nicht immer so.
Worte bestehen aus Lauten, und bevor sie lernte, solche Laute zu Worten zu verbinden, musste die Menschheit ihnen Bedeutung beilegen.
So war es.
So ist es.
Und so wird es immer sein.
Die Kette sinntragender, aus der Vergangenheit kommender Laute ist eine musikalische Überlieferung. Auch heute werden Laute geboren, und Bedeutungen werden ihnen beigelegt - diese sind die Neuerungen im Bereich der "Laut"-Schöpfung.
Zuweilen stoßen Überlieferungen und Neuerungen hart aufeinander - oder Wächter wischen jede neue Entwicklung weg, oder die Neuerer sind zerstörerisch und attackieren alles, was Überlieferung ist.
Keiner dieser Wege ist fruchtbar.
Die Zerstörung einer Überlieferung ist niederträchtig, weil dieser Vorgang als solcher die Zukunft einer Kultur bedroht.
Andererseits ist es unmöglich, eine Überlieferung bloß zu bewahren. Trotz ihres scheinbaren Konservatismus und ihrer Abgeschlossenheit lässt lebendige Überlieferung ihre Säfte in die heutige vorgefertigte Umgebung einfließen und erhält so die Dinge frisch und munter und baut nicht nur auf das Raunen aus der Vergangenheit.
Lebendige Überlieferung ist immer in Bewegung - von der Geburt zum Tod und vom Tod zur Wiederbelebung. Aktualität wird durch Vergessenheit ersetzt, und Vergessenheit wird durch Neugier ersetzt.
Eine Überlieferung zu töten, ist leicht - einfach indem man ihr gehorsam folgt. Um eine Überlieferung zu bewahren und so deren völlige Zerstörung zu vermeiden, ist es zunächst notwendig, sich von ihr zu verabschieden, nur um zu einem späteren Zeitpunkt zurückzukehren; die abgeschlossene Welt der Überlieferung zu verlassen, sich hinauszuwagen in die umgebende Welt, dann zurückzukehren, bereichert, und die Überlieferung selbst für Wandlung zu öffnen; sie gegenwärtig zu halten, zugehörig zum Heute, und sie nicht ins Vergangene zu stoßen, ins Gestern...

HISTORIE
Tuva - das stille, stolze und einsame Land, Land mit seiner eigenen Stimme...
In der Mitte Asiens gelegen, im Süden Sibiriens, an der nördlichen Grenze der Mongolei, umgeben von Bergen, dem Altaigebirge im Süden und Westen, dem Sajangebirge im Norden und Osten.
Abgeschnitten vom Rest der Welt durch Gebirge, ist es selbst Urheber seiner Geschichte gewesen, ersichtlich an tuvinischer Lebensweise während vieler Generationen oder am Vergleich der Zyklen von Geburten und Toden; und über die Jahrhunderte ein unruhiges Volk.

Exkurs 1 - historisch
Die Hunnen sind hier gewesen und haben sich mit den ansässigen Stämmen im 2. Jh. v. Chr. vermischt. Zu Beginn unserer Ära lebten die tuvinischen Stämme unter dem politischen Einfluss der Sjanbimanen und später der Gogann (Ouon). Im 6. und 7. Jh. war Tuva Teil des alten türkischen Kaganats, und im 8. und 9. Jh. des ugrischen Kaganats. Vom 9. bis 12. Jh. wurde Tuva zum Staat des alten Kyrghys, und vom 12. bis 16. Jh. war Tuva unter dem Joch mongolischer Lehnsherren. Im 17. und der ersten Hälfte des 18. Jhs. war Tuva ein Teil der Staaten Attynkhan und Dzungar. Von der Mitte des 18. Jhs. bis vor Beginn des 20. Jhs. war Tuva Teil des chinesischen Mandschu-Reiches. Von 1921 bis 1944 war Tuva formal ein unabhängiger Staat unter dem Protektorat der Sowjetunion. 1944, nach dem Ende der politischen Spiele des Stalin-Regimes und vor der Auflösung der Union, war Tuva ein kleiner und rechtmäßiger Teil der UdSSR. 1991 ist Tuva eine der russischen Republiken geworden.

Die tuvinische Geschichte ist durch Ereignisse und Neuankömmlinge bereichert worden und hat die verschiedensten Einflüsse vieler fremder Kulturen absorbiert. Stets war Tuva eine historische und geographische Wegekreuzung der Kulturen. Und die tuvinische nomadische Lebensweise beförderte die Verbreitung und gegenseitige Durchdringung anderer kultureller Traditionen. Der Reichtum der tuvinischen Kultur unter solchen Bedingungen ist also ganz normal und leicht erklärlich. Schwer verständlich jedoch ist, wie aus dieser Flickendecke nomadischer Kultur eine derart organische und abgerundete Mischung mit so einzigartigen Komponenten wie etwa dem Obertongesang entstanden ist.
Tuviner sind Nomaden und sie leben auch jetzt noch in ihren Jurten (Zelten aus Häuten, Leinwand und Filz) in den Stoppen Zusammen mit ihren Ziegen-, Schaf-, Pferd-, Yak- und Kamelherden. Es ist ein kleines Volk von etwa 300.000 Seelen, die sich zum Buddhismus des Lamas bekennen, doch der tuvinische Buddhismus ist eng mit einem viel älteren Schamanismus verwoben.
Zu sowjetischer Zeit bauten selbst die kleinsten nationalen Minderheiten erbarmungslos aber freundschaftlich eine "lichte kommunistische Zukunft" auf, mit religiösen und traditionellen Bräuchen, eine Kultur, für die sie erfolgreich kämpften. Von den -zig buddhistischen Tempeln und Klöstern, die zu sowjetischer Zeit existierten, hat nicht eines überlebt, und erst seit 1991 beginnen sie in Tuva wieder zu erstehen. Schamanen wurden aufgespürt und kamen in Konzentrationslagern und Gefängnissen um. Sie behielten ihre besonderen Gaben für sich.
Es ist klug, Traditionen in den Bergen aufrechtzuerhalten; aber sie in Isolation zu halten, bedeutet fast sichere Ausrottung. Während der gut fünfzig Jahre "kommunistischen Aufbaus" hätte das tuvinische Volk seine Identität verlieren können. Aber wie das Glück es wollte, und weil Gesetze so tief in einer Kultur verankert sind - "Manuskripte brennen nicht", wie der russische Schriftsteller Mikhail Bulgakov formulierte. Und die Tradition der tuvinischen Kultur, die für Dekaden im Untergrund geblieben war, ist nun zurückgekehrt. Diese Rückkehr ist heilig und sanft, aber der Weg zurück zu den Quellen ist steinig und gefahrvoll.
Tuva ist nie ein Reservat gewesen. Der Fluss des Lebens widersprach stets allen künstlichen und spekulativen gesellschaftlichen und kulturellen Konstruktionen. Und zurückzugehen zur Tradition bedeutet nicht, sie blindlings zu kopieren. Jeder Meister hatte und hat seine eigene Version von einer alten Melodie.
Auch wenn die Tradition noch nicht ganz offen ist, so ist sie doch sicher einen Spalt breit geöffnet. Und die wahre Kunst ist in der Tradition zu stehen und doch man selbst zu bleiben.
In Sibirien gibt es den Brauch, einem Kind bei der Geburt sein eigenes "persönliches Lied" zu schenken, das es durch sein Leben begleitet und gewissermaßen seine Identifikation ist.
Schamanismus ist offen, weil er wirksam ist…
Wir sind fast gezwungen, Traditionen zu kombinieren, denn wir leben in der "kombinierten" Welt, einer Welt, die aus dem Traditionellen und dem Industriellen zusammengesetzt ist. Diese Kombinationen sind zuweilen sonderbar und verwickelt.

Exkurs 2 - anekdotisch
Die Hauptstadt von Tuva, Kysyl, ist eine Stadt mit einem Komplex von Regierungsgebäuden, Theatern, Schulen, Supermärkten, neunstöckigen Betonblocks mit Wohnungen, einem Flughafen, Buslinien…., doch abends ist die Stadt so still, dass man nur noch das Geräusch des Flusses hört, der immer nur ein paar hundert Meter von einem entfernt ist. Es ist eine Stadt, aber eine Stadt die noch nicht zu sich gefunden hat. "Ein Zeichen von Zivilisation", das einzige in der Stadt, ist das recht ordentliche Hotel, wo Fremde und Besucher aus dem "Zentrum" gewöhnlich absteigen. Es liegt direkt gegenüber der örtlichen KGB-Niederlassung, so dass die Geheimpolizei es nicht nötig hatte, große Mühe aufzuwenden. Auf dem Weg vom Flughafen sieht man oben auf einem der Gebäude die riesigen Buchstaben eines aus sowjetischer Zeit übrig gebliebenen Mottos, die alte "Wahrheit" gilt nicht mehr: anstatt wie früher "Das Volk und die Partei sind eins" liest man jetzt, mit Leerstellen, "Das Volk……eins" die überflüssigen Buchstaben sind einfach abmontiert worden, das war Kosten sparend und ideologisch korrekt und es bringt den tatsächlichen patriotischen Geist zum Ausdruck.

Tuviner haben vor Musik Hochachtung. In der Sprache des Volkes: "Ein Körper badet in Wasser, die Seele - in Musik". Die neue improvisierende Musik kommt zu der alten improvisierenden Musik, und je weiter sie miteinander gehen, einander helfend und bereichernd, umso mehr können sie den Hörenden bereichern. Alles ist möglich und sollte innerhalb der Tradition möglich bleiben, aber wenn alles möglich ist, sollte es erlaubt sein, Abschied zu nehmen, ohne die Wurzeln aufzugeben oder die Nabelschnur zu zerreißen ...
Und eben dazu lädt die Tradition ein: so gab und gibt es in der Tradition immer Raum für die Nachahmung von Klängen - früher von Klängen der lebendigen Natur, heute von inneren und äußeren Klängen der Zivilisation…..

STORY
1988 wurde in Kysyl ein neues Theater gegründet. Vresh Milojan hat es geschaffen, ein armenischer Künstler, Dichter, Musiker und Theaterdirektor, der in Tuva lebt und seit 15 Jahren mit einer tuvinischen Schauspielerin verheiratet ist. Man nennt das Theater den "Kysel", was auf tuvinisch "Traum" bedeutet. Das Theater wurde als ein moderner Bau errichtet, eine malerische Version traditioneller Rituale und Mysterien. Stilistisch im Grunde tuvinisch, aber nicht nur. Es war die poetische Version des Vorhandenseins von Schamanismus, jetzt in den Formen und Strukturen der Kunst. 1990 wurde im Einvernehmen mit dem Theater und unter der Leitung von Vresh Milojan die Musikgruppe "Biosintes" geboren. Anfangs bestand die Hauptfunktion der Gruppe in der Erstellung von Tonaufnahmen für die Theateraufführungen und in der Teilnahme an solchen Aufführungen im "Kysel" Im wesentlichen waren es tuvinische, armenische und russische Musiker mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen - einer spielte ursprünglich in Folkloregruppen, ein anderer hatte in Restaurants gespielt, wieder ein anderer in Popgruppen. Alle spielten sie in der Gruppe. Zunächst war ihre Musik um einen ethnischen Improvisationstypus orientiert, Manchmal auf einem Rock-Ostinato aufgebaut, manchmal ganz frei. Eine Hauptinspiration war aber der tuvinische Obertongesang, vor allem langsame Lieder.
1991, vom Theater sich wegbewegend, beginnt das Tourneeleben von "Biosintes". Und noch ihren ersten Auftritten auf Festivals werden Öffentlichkeit, Kritik und Förderer auf die Gruppe aufmerksam.
1991-1994 - die Gruppe spielte aktiv und erfolgreich auf Festivals und gab Konzerte in Kysyl, Jakutsk, Krasnojarsk, Petersburg und Moskau. Die Besetzung wechselte ständig. Von sieben Musikern schrumpfte sie auf drei und vergrößerte sich wieder durch Hinzunahme von Gastmusikern.
1994 - neben sensationellen Auftritten in Petersburg und Moskau öffnete sich "Biosintes" für Europa und tourte einen Monat lang durch Deutschland und Österreich, gemeinsam mit der Landsmännin Sainkho Namtchylak, die in der Welt neuer improvisierter Musik bereits gut bekannt ist. Diese Tournee endete mit einem Auftritt beim Berliner "Total Music Meeting", wovon Sie die Aufnahme gerade in den Händen halten.
1995-1996 - die Gruppe spielte gelegentlich auf russischen Festivals, hat wieder einmal ihre Besetzung geändert und ist jetzt an den Busen ihres Ursprungs zurückgekehrt, an das Theater, das in den letzten Jahren nach Moskau umgezogen ist. Der Kreis hat sich geschlossen.
Das war die kurze Geschichte von "Biosintes". Doch parallel zu ihr (wenn auch häufig mit ihr sich überschneidend, fast Lobachevsky-Geometrie) gab es eine andere Geschichte - die Geschichte von Kontakten und Wechselwirkungen der neuen improvisierten Musik mit Tuva, mit der tuvinischen Öffentlichkeit, tuvinischen Musikern und tuvinischer Musik. (Hier ist sie, wieder im Telegrammstil.)
1988 wechselte Sainkho Namtchylak, die Folkloresängerin - damals nicht nur in Tuva und Russland, sondern auch in vielen anderen Ländern bekannt - vom Lager der alten (und nicht so alten) improvisierten Musik zum Lager der neuen, großenteils improvisierten Musik. Damit begann ihre schwindelerregende Karriere.
In den Jahren darauf besuchte sie ein- bis zweimal jährlich ihre Heimat und gab dort Konzerte für ihre Landsleute.
1991 trat Peter Kowald - Free Jazz Missionar - mit den Kameraden in Tuva auf. Er gab ein Konzert in Kysyl, kommunizierte mit Musikern, zeigte seine Kunst und machte sich mit tuvinischer Kunst vertraut. Zwischen 1991 und 1994 kamen Ken Hyder, Tim Hodgkinson und Vladimir Miller aus Britannien, Heinz-Erich Gödecke und Hans Schüttler aus Deutschland und "Die Knödel" aus Österreich zu gelegentlichen Konzerten und Workshops nach Tuva. Alle diese Besuche wurden von Sainkho organisiert oder inspiriert.
1994 - ein bemerkenswerter Workshop mit Konzert in britischer und tuvinischer Besetzung, einschließlich der Gruppe "Biosintes" und mehrerer authentischer Schamanen fand in Kysyl statt.
1995-1996 - keine Konzerte mit neuem Jazz während dieser Zeit in Tuva.
Sie sollten versuchen, diese zwei Chronologien selber zu kombinieren.

MYSTERIUM
Haben Sie zu Ende gelesen?
Nun, dann hören Sie sich die Musik an….

Übersetzung: Wulf Teichmann

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