FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 79

Bernard Fontaine

 

,,Von Christine Wodrascka solltet ihr die Stimme kennen, wie sie lächelt, ihre geistesabwesende Anwesenheit, ihre Zweifel, ihre Verwirrung, ihr Schweigen, die seltsame Art, wie sie ein Päckchen Zigaretten öffnet, ihre unechte Überempfindlichkeit, ihre unsinnige Liebe zu Zimmerpflanzen aus Plastik, ihre Aversionen, ihre vorgetäuschte Ruhe, ihre jederzeitige Verfügbarkeit, ihre slawo-provenzalische Herkunft, ihre vergeblich verhohlene Bescheidenheit, ihre Strenge, den Schnitt ihres Baretts, den Durchmesser ihrer Knöchel, ihre Einflüsse, ihren Willen, nichts zu opfern, ihr einzigartiges Zuhören, ihre Wünsche, ihr sehr distanziertes aber ehrliches Verhältnis zur Küche, ihren Wunsch, sich nicht die Fittiche zu versengen, ihre Alltäglichkeit, ihre Gereiztheiten, ihre versteckten Forderungen, ihre Rückzüge, ihr Zurückkommen auf den Punkt, ihre lautlosen Kompositionen, ihr undiszipliniertes Haarlöckchen ...

Im Sinne der Skandalpresse werdet ihr von alldem nichts wissen…Vertical jedoch wird euch sagen, was Musik sein kann; etwas anderes als eine Ausdrucksweise, wie sie uns nur allzu oft durch Andeutungen entfremdet wird, die ebenso im Schwange wie zynisch aktuell sind: Zerstreuung, Geld, Verwilderung, Populismus, leichte Machbarkeit, Demagogie, Unredlichkeit, musikalische Korrektheit; eine Musik des täglichen Ordinären und Extraordinären, ohne jede Zurückhaltung; falsche Scham oder Koketterie, wie sie vorschnell als weiblich gilt.

Christine Wodrascka spielt für das Hier und Jetzt, nicht um Gefühle, Gedanken, alltägliche kleine Regungen und Gesten auf Distanz zu rücken, sondern, im Gegenteil, um sie zu intensivieren; somit ist das Vertikale - Metapher für alles, was menschlich ist - eine innere Reise und eine Einladung, an ihr teilzuhaben.

Nach einigem Zögern gebe ich mich Vertical also hin.

Eine Abwesenheit gefühligen und musikalischen Kompromisses empfängt mich, der Ausdruck der Heftigkeit oder die Heftigkeit des Ausdrucks ... Kleine Nichtigkeiten gewinnen ihren Sinn, brechen ab, um ihre Anschlüsse, ihre Verbindungen, ihre unterdrückten Zusammengehörigkeiten wieder zu finden und einen jubelnden Zornesausbruch einzuleiten, auch wenn dieser sich dann als schuldig erweisen wird.

Die Notizen werden wesentlich, behaupten sich, doch die Worte schrumpfen zu sinnentleerten Zeichen. Was bleibt, ist die kleine Quecksilberkugel, in der ich zu entwischen suche; bei einem Kontrollversuch bemühe ich mich vergeblich, sie zu fassen zu kriegen, aber sie will nichts anderes hören als den metallischen Klang eines unwahrscheinlichen Cembalos in einer Tanzkneipe.

Allerlei Mechanismen setzen sich in Gang, herum um die durch die Musikerin dargestellte Achse, eine Maschinerie, die darauf abzielt, mit Regelmäßigkeit und Wiederholung zu brechen.

Applaus reißt mich aus meiner wahren Kommunikation, derjenigen, die nur mit dem Echten zufrieden ist, dem Organischen, den Innereien, die von all den Schmarotzern, die unsere unangepassten Hirne erzeugen, nichts wissen wollen. Diese Rückkehr zur Realität mache ich mir zunutze, um die Worte nach ihrer Aussagekraft über Musik zu befragen. Musik wie Sprache - aber eine Sprache ohne Regel, ohne Algorithmus - erfordert gespitzte Ohren, die offen sind für alle möglichen Abweichungen und Entartungen.

Ich befinde mich wieder in den geheimen Befragungen und Antworten von Vertical.

Zurück zum Blues, der mich animiert, nichts Herabziehendes, Ängstigendes, einfach ein angenehmes Eintauchen in Wehmut, nicht diejenige, die uns kaputt macht, sondern die uns stützt; die Geschichte, die mir vom Herzen spricht, dieser albernen Pumpe, der Gefühlsmaschine; die Geschichte, die mir Furcht macht bei all dem Schrecklichen und Normalen, jeden Tag; die Geschichte, die mich denken lässt, dass Musik die Sitten sänftigt; die Geschichte vom Verhandeln über die kulturelle Kluft; die Geschichte vom Sagen ich liebe dich, um nicht zu sagen ich hasse dich; die Geschichte, wie ich überzeugt werde, dass ich aufhören könnte zu rauchen; die Geschichte vom Glauben an Banalität und an sonst nichts.

Die Musik ist verstummt, und ich versuche, einige Eindrücke wieder zu finden, nicht diejenigen, die gewesen sind, aber die, die ich am Leben glaubte.

Christine Wodrasckas Vertical ist mehr als eine Aufnahme an einem bestimmten Datum, es ist die Spur eines abenteuerlichen Auszugs, eines suchenden Strebens, das morgen ein anderes sein kann. Beim Abschied von dieser musikalischen Abweichung blicke ich auf zu der Katze im ersten Stock, die verliebt die Taube im zweiten belauert, und mein einziger Wunsch ist hinauszugehen und den Regentropfen zu empfangen, der mir sagen wird ,Es regnet, also bin ich.'

Übersetzung: Wulf Teichmann

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