FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 78

Steve Beresford

 

Ebenso wie beim Feuerwerk und bei Tonaufnahmen in Rillen scheinen die Wurzeln der Ziehharmonika chinesisch zu sein. In Europa war das erste Instrument mit frei schwingender Zunge eine chinesische Mundorgel, ein Scheng, das einen Mr. Charles Wheatstone (1802-1875) inspirierte, die Ziehharmonika zu erfinden. In vielen irischen und englischen traditionellen Musiken ist sie seitdem der Geige ein lieber Partner gewesen; doch diese bezaubernde Platte erinnert mich mehr an afrikanische Musiker wie Noise Khanyile, der Ziehharmonika und Geige in der Tradition der südafrikanischen Jive-Musik kombiniert.

"Bube", teilt Herr Reichel mir in einem so gelehrten Fax mit, dass es diese Bemerkungen in den Schatten stellt, "ist ein ziemlich altmodisches Wort…Allgemein bedeutet es ‚männliches Kind' oder ‚Junge', ‚Knabe' oder ‚lad', wie Charles Dickens gesagt hätte. Es bedeutet aber auch ‚frecher Kerl', ‚Schlingel', ‚Schelm' im Sinne von ‚Spitzbube', ‚Lausebengel'. " Ich mag auch das Wort ‚scallywag' (Schurke, Schuft) - man hört es noch in Liverpool, aber verkürzt zu ‚scally'. Es ist diese Qualität - einhergehend mit rhythmischen Umtrieben, Verve, Chuzpe, einem Interesse am Erkunden neuer und manchmal ‚abartiger' Klaggebiete - die Mr. Khanyile hat und welche die CD, die Sie in der Hand haben, so kostbar macht. (Ein abgedroschenes Wort, aber ich halte dran fest.) Diese Schufte sind längst zuvorkommende, gescheite, launige Gentlemen geworden, aber sie haben nichts von ihrer jugendlichen Energie verloren.

Wie der große Bo Diddley hat Herr Reichel mit der Geige angefangen, bevor er zur Gitarre wechselte. Beide bauten sie Gitarren nach ihren eigenen, ganz speziellen Entwürfen, und die technischen Veränderungen haben sie ihrer musikalischen Sprache einverleibt. Die Erfindung des Daxophons bedeutete eine kleine Rückkehr zum früheren Instrument, da das Dax gewöhnlich gestrichen wird. Mehr noch als die Fiedel hat es eine wunderbare Tonhöhenflexibilität (Bo und Noise sollten es ausprobieren), und wie seine Gitarren ist es sehr gut anzuschauen.

Die Leute reagieren unmittelbar auf die menschliche Stimmqualität des Daxophons, und auf der 1978er Aufnahme höre ich von Herrn Reichel ein bisschen Gesang, der vielleicht das Dax präfiguriert, das bei Erscheinen dieser Aufnahme auf der LP (1978) noch nicht erfunden war. Die beiden Burschen haben wieder konspiriert, um Ihnen neue Duette zu bringen, diesmal zwischen Daxophon und "zwei Akkordeons - einem sehr großen und einem weniger großen".

1978 würdigte mein alter Freund Richard Leigh die LP in ‚Musics' mit einer für diese Zeitschrift schwärmerischen Kritik: "Es ist eine Platte von Leuten, die Dinge probieren, anstatt bloß zum tausendsten Mal gelangweilt Dinge zu machen."

Anders als die meisten Tiefdenker ist Herr Carl stets mit frischen und spontanen Zugriffen aufgetaucht. Da es auf der Ziehharmonika unmöglich ist, wie bei der Geige durch die Tonhöhen zu gleiten, hat er die diatonische Beschaffenheit des Instruments seiner Kindheit wunderbar wirkungsvoll genutzt; ein weiteres Echo aus den afrikanischen Townships, wo der Dur-Akkord so oft und mit solcher Kraft benutzt wird. Louis Moholo - der mit Herrn Carl im Trio spielte - erzählte mir, dass ein Akkordeon in Südafrika ein hochgeschätztes Instrument sei. Wahrscheinlich besitzen Sie bereits einige FMP-Platten, auf denen Herr Carl Klarinette und/oder Saxophon spielt. Das sind seine Hauptinstrumente, aber sein Quetschkommodenspiel ist, möchte ich sagen, ganz da oben bei Bernard Wrigley, dem ‚Bolton Bullfrog' (Ochsenfrosch von Bolton). "Ursprünglich", schreibt Herr Reichel, sollte die LP ‚Bubenziehen' heißen. In einer damals stadtbekannten Wuppertaler Nachtkneipe gab es ein Trinkerspiel dieses Namens, und wie ich hörte (und mich jetzt undeutlich erinnere), haben wir da offenbar des Öfteren mitgemacht. Es geht so: der Keeper mischt die Karten, und jeder in der Runde zieht eine Karte. Wer den ersten Buben aufdeckt, bestimmt die Sorte, die kurz darauf von dem ganzen Haufen gekippt wird - der zweite legt die Menge fest (einfach, doppelt, dreifach), und immer so weiter…jedenfalls derjenige, der den vierten Buben zieht, muss den ganzen Scheiß zahlen. Eine gute Chance, für umsonst zwanzig verschiedene Schnäpse in den Bauch zu kriegen."

Nicht, dass das für Sie lieber Hörer, obligatorisch wäre. Diese Musik kann man ebenso bei einem guten deutschen Kuchen genießen, zu Ehren von Herrn Carls Großmutter Tinka, die so feinsinnig war, ihm Ziehharmonikaspielen beizubringen.

Übersetzung: Wulf Teichmann

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