FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 72

Markus Müller

 

Es war an einem Abend im April, damals, 1993. Draußen war Frühlingserwachen und sternklare Nacht, drinnen war "September Band".

An diesem 10.4.1993, - einem Samstag, und mir ist, als sei es erst gestern gewesen, zeichnete Hans Reichel im Rahmen des "25. Workshops" der FREE MUSIC PRODUCTION verantwortlich. Ob die Nacht sternklar war und in der Luft ein Frühlingserwachen flimmerte, weiß ich eigentlich gar nicht mehr zu sagen. Nur dass nach einem Duo mit Kazuhisa Uchihashi, einem der viel zu seltenen Auftritte der "All Daxophon Band", dem anschließenden Duo mit der koreanischen Kommungo-Spielerin Jin Hi Kim, dann die "September Band", also "…Shelley tell us the whole story Hirsch, Rüdiger Carl, Akkordeon, Klarinette und Paul Dreh das Moment Lovens" *1 mit Hans Reichel, "Gitarren" und Daxophon, spielte. Da klang es, und auch heute klingt es in meiner an Erinnerung noch so: sternklar und Frühlings erwachend. "Wenn man gut durch geöffnete Türen kommen will, muss man die Tatsache achten, dass sie einen festen Rahmen haben: dieser Grundsatz…ist einfach eine Forderung des Wirklichkeitssinns. Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird es bezweifeln, dass er seine Daseinsberechtigung hat, dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann." *2

Wenn das oben genannte, erste Konzert der "September Band" die Möglichkeiten der Improvisation Wirklichkeit werden ließ, so lässt die vorliegende Aufnahme diese Möglichkeiten noch wirklicher werden.

Nach knapp 30 Jahren europäischer Improvisation wissen wir heute, dass sich diese Musik mitunter, am Maßstab der langjährigen Zusammenarbeit der Musiker gemessen, intensivieren kann. Das "Schlippenbach Trio" sei hier noch einmal als Beispiel bemüht. Die "September Band" hat den Vorteil, dass sie zwar erst seit zwei Jahren besteht, aber sich die Musiker aus anderen musikalischen Kontexten zum Teil schon sehr lange kennen und diesen Erfahrungsschatz in jedem Moment hörbar machen. Rüdiger Carl und Paul Lovens haben immerhin schon 1974 ("Hamburg '74", Globe Unity Orchestra & Choir of the NDR-Broadcast, FMP 0650) zusammen gespielt. Hans Reichel hat mit Rüdiger Carl 1978 die, man kann sagen, mittlerweile legendäre "Buben" (FMP 0530) aufgenommen, und schließlich haben Lovens, Reichel und Shelley Hirsch u.a. in "X-Communication" (FMP CD 33) improvisiert. Die Schnittmenge dieser Spiel Erfahrungen, die "September Band" hat mittlerweile zwar einen "festen Rahmen", aber erst recht genug "Möglichkeitssinn", um den faszinierenden Grad von intuitiv strukturierter Improvisation in so nie gehörter Weise zu erspielen.

Zunächst und ganz offensichtlich widerspricht diese Musik (für die Hörer, die Hans Reichel und z.B. das "COWWS"-Quintett mit Rüdiger Carl schon länger kennen, keine Überraschung) den gängigen Kategorisierungen und Vorurteilen, denen improvisierte Musik allzu oft unterworfen wird. Die drei Instrumentalisten nutzen zwar das gesamte Spektrum des um das Geräusch erweiterten Musikbegriffs, aber strukturieren dieses Spektrum durch zum Teil überraschende und im besten Sinne unterhaltsame Rhythmisierungen (Paul Lovens an den Shuttle-Besen, Rüdiger Carl mit Minimal-Akkordeon und Hans Reichel mit dem Daxophon im Zwei-Viertel-Takt) zu ausgesprochen szenischen impressionistischen musikalischen Stimmungen. Shelley spricht, singt dazu (und auch dies ist je nach Hörerfahrung mehr oder weniger erstaunlich) ihre "Songlines", Kurzgeschichten, assoziativen Hypertext-Verweise, ein plötzliches "Derrida", ein plötzliches "Bataille" und diese unvergleichlichen "Truisms" (courtesy Jenny Holzer), diese Binsenweisheiten wie: "…When you come from the South, you smell a different way than when you come from Brooklyn…", die der Musik mehr als nur den Anschein von narrativer und im Einklang mit der Musik, filmischer Qualität verleihen. Shelley Hirsch verlässt sich hier, so scheint es zumindest beim ersten Hören, in großen Teilen auf ihren Fundus an "poesie automatique" und benutzt nur hin und wieder ihr geräuschhaftes und instrument-imitierendes Scatting.

Durch das Wechselspiel zwischen den rhythmischen Elementen der Musik und den sich assoziativ "fortschreibenden", sich also linear entwickelnden Texten von Shelley Hirsch, entsteht eine außergewöhnliche musikalische Form, die sich wesentlich von den mitunter allzu gleichförmigen Konzertrations- und Entspannungsfolgen frei improvisierter Musik unterscheidet. Ich hatte das Gefühl, einer Serie von bestimmt aber unbestimmt miteinander verbundenen Hörspielen zu folgen, einer Art Kurzgeschichtensammlung, in der bestimmte Protagonisten immer wieder, aber eben immer wieder an anderen Orten, in anderen Zusammenhängen, auftauchen. Dieses Changieren zwischen Bekanntem und Unbekanntem kann nach einiger Zeit das bekannte "Lindenstraßen-Sucht-Syndrom" auslösen: man will immer wieder hören, wie es weitergeht. Und der Hörer meint sich immer dann auf bekanntem Terrain, wenn die Musik schon darauf wartet, die nächste "terra incognita" zu erobern. Die vertraute Szenerie: der satte Rasen vor dem Einfamilienhaus, die unermüdliche Sprinkleranlage, der weiße Gartenzaun, der stolze Familienvater am Elektrorasenmäher stürzen plötzlich in die Perspektive eines Laufkäfers im Grashalmdschungel. Hier greift der ganze David Lynch.

Die Musik entwickelt eine Reihe von Hooks, und kurioserweise entwickeln sich beim wiederholten Hören immer wieder andere Hooks, kleine musikalische Vignetten, die sich in die Oberflächenaufmerksamkeit des Hörers einhaken, so dass die Improvisation mitunter wie eine Songfolge anmutet. In dem Augenblick allerdings, da man annimmt, man könne "sein" Lied weiter pfeifen, gewichtet die eigene Wahrnehmung die Musik plötzlich anders und neu, und ein bisher vordergründig nicht wahrgenommenes Detail bekommt plötzlich eine Schlüsselfunktion. Dadurch assoziiert man mit der Musik einen Vaudeville-Glamour, in dem sich geschichtsträchtige Spuren und Details mit gleißendem Scheinwerferlicht und Peilettenflittern abwechseln. Shelley Hirsch wird zu einer "chanteuse extraordinaire", die aber nun gar nichts bereut, und die Musik ist wie das sich überlagernde Wellenspiel um die Poller des Quay. Die übliche Rollenverteilung der Instrumente wird dabei zugunsten eines sich gleichsam im Zeitraffer dokumentierenden und natürlich immerzu wechselnden Jahreszeitenverlaufs aufgegeben. Das heißt, dass sich die Musik horizontal wie vertikal permanent verschiebt. Vordergründe werden zu Hintergründen und vice versa. Die entstehenden Interferenzmuster changieren. Das Klangbild ist in Bewegung. Die Motiventwicklung gehorcht den Gesetzen der Improvisation. Jeder der Musiker erzählt seine eigene Geschichte, und er entwickelt sie im Einklang mit der Sammlung der Geschichten seiner Mitmusiker. Dabei mag zunächst die Stimme von Shelley Hirsch im Vordergrund stehen, sind wir doch aufgrund unserer Konditionierung ohnehin geneigt, immer zuerst auf Stimmen zu hören. Nur dass wir in diesem Fall manchmal auf ein Daxophon und nicht auf eine Stimme hören. Aber sowohl die Stimme als auch die Instrumente spielen eben mit unseren Wahrnehmungs- und Widererkennungskategorien. Die Stimme, indem Shelley Hirsch ein Kaleidoskop von Dialekten und Kunstsprache vorstellt, so dass man bald weiß, dass man nur glaubt zu wissen, worum es geht. Die Instrumente, indem ein "typischer" Hans Reichel-Lauf ein "typischer" Paul Lovens-Roll, ein "typischer" Rüdiger Carl-Akkord plötzlich zu einem Zitat der eigenen Musikgeschichte werden und in Zitate aus bewusst anderen Musikgeschichten umschlagen. Damit meine ich, dass die oben erwähnten, immer anderen Orte, an denen die Musik erscheint, Klänge dieser Welt festmachen. Wie im Schwarzlichtblitz meint man, Jo Jones oder Jimmy Guiffre oder ein Daxophonbaby über Gamelanklängen vorbeiziehen zu hören. Zumindest die Möglichkeit scheint hinter jeder Ecke der Wirklichkeit hervor. Diese Möglichkeiten machen die Lust an dieser Musik.

*1 Wie ich das in der "Jazzthetik" 6/93 beschrieb.
*2 wie Robert Musil das in "Der Mann ohne Eigenschaften", Hamburg 1987, S. 16, beschrieb.

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