FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 60

Giuseppe Colli

 

The Dawn of Dachsman ... Plus

Es war Les Paul, der amerikanische Gitarrist/ Erfinder, der von einem Mitmusiker sagte: "Er ist sehr gut, aber kann seine Mutter ihn im Radio heraushören?" Im Fall Hans Reichels wäre die Antwort ein uneingeschränktes Ja - vorausgesetzt, seine Musik würde im Radio gespielt; aber das ist eine andere Geschichte. (In einer vollkommenen Welt wäre er wohlhabend durch das Produzieren der Art von Ladenhüter-Hits, von denen jeder glaubt, nur er habe sie gekauft.) Dass seine Musik leicht erkennbar ist, hat, sagen wir mal, nichts damit zu tun, dass seine Platten unter Verwendung von Kohlepapier hergestellt werden; tatsächlich hat fast alles sich geändert, seit Reichel sich zum ersten Mal weigerte, für selbstverständlich zu nehmen, wie eine Gitarre auszusehen und zu klingen habe - dafür gibt es mehrere schöne Beispiele auf FMP. Aber das sind keine "special effects"-Platten: die technischen Möglichkeiten, die dem Musiker Reichel durch den Instrumentenbauer Reichel gegeben sind, wurden so gründlich erkundet, dass man, hört man sich die besten seiner Instant-Kompositionen (ganz recht, bloß Wasser hinzufügen!) wirklich an, ein Hörbild von schwindel erregender Komplexität bekommt. Was aber haften bleibt im Hirn ist eine bestimmte Art mysteriöser Schönheit von nahezu vollkommenen architektonischen Proportionen - neben einem Schuss Humor, den man nicht überhören sollte, und einem sehr ausgeprägten Gebrauch von Silenzio und Rubato (bevor jemand sagen kann "Monk", höre man die rätselhafte Qualität des letzten Akkords der zweiten Version von "Watching the Shades").

Reichel geht also mit Holz um - und sein Artikel in der Januar 89-Ausgabe des amerikanischen Guitar Player Magazins ist meines Wissens noch immer die beste Erklärung der Funktionsweise seiner Instrumente - aber damit kein falscher Eindruck entsteht: er ist kein Luddit/Technophobe; es ist einfach so, dass es nicht seine Art ist, eine Floppy in den Vega 256 zu schieben oder James Brown-Maschen als Rohmaterial zu benutzen. Leider hat seine spezielle Art Virtuosität bei der Mehrheit der Kritiker keinerlei Beachtung gefunden, schon gar nicht bei denen der Postpunk-Richtung, die zwar mit Recht die leere Gymnastik der, sagen wir, Horden von Metallurgen verdammen, für Virtuosität, egal welcher Bauart, aber völlig taub geworden zu sein scheinen.

Nun ein wahres Geschenk für diejenigen, die sich immer noch fragen, wozu die Repeat-Taste an ihrem CD-Player da ist: "The Dawn of Dachsman", erstmals 1987 auf Vinyl herausgekommen, liegt hier in Neuauflage vor, zusammen mit einigen bisher noch nicht veröffentlichten Aufnahmen aus demselben Jahr. Einige Titel der zweiten Abteilung sind neue Versionen bereits aufgenommener Stücke - eine willkommene Gelegenheit, Reichel beim Überarbeiten von Reichel zu hören. Der Pluspunkte sind zu viele, um sie alle aufzuzählen: die schattierungsreiche Polyphonie von "Waiting" und von "Smoking"; die expressiven Arpeggios von "Watching the Shades"; die Nuancen von "Forgotten", die einen den Atem anhalten lassen. Und reichlich typische Reichel-Anschläge: die transparenten Klänge von "Thinking"; der Kontrast zwischen der hohen Melodie und der Bewegung im Bassregister in "Return of the Knödler Show" - man pfeife das, doch auf eigene Gefahr! -; und der Humor von "Unidentified Dancing Object", wo ein fremdes Raumschiff eine Pygmäenparty sprengt (hey, "The Third Stone from the Sun" zwanzig Jahre später!). Eine Dimension der solistischen Spielweise Reichels, die nicht so oft vorkommt, wird hier durch "An Old Friend Passes By" präsentiert: ein erstaunliches Stück, wo wir jemand (jemand guten, versteht sich) leidenschaftlich in der Garage jammern hören, alle Vorsicht in den Wind schlagend; man höre die bluesigen Soul-Licks, die hier und da aufsprießen (Curtis Mayfield?Jimi Hendrix? Hans Reichel!) - und dann den ellenlangen "Jammerhaken" am Ende!

Nicht zufrieden damit, mehrere innovative Instrumente gebaut zu haben, erfand Reichel das Daxophon, ein richtiges "Wattissndet", wenn es je eines gab. Die hier zusammengefaßten Stücke sind Babybilder im Vergleich zu einem weiterentwickelten Werk wie "Shanghaied on Tor Road" (zu dem der Begleittext dem Leser Aufschluss gibt, wie dieses "Ding" funktioniert), doch sie sind absolut überzeugend. Die ursprüngliche LP brachte drei Daxophonstücke: das Grunzen und Quieken des Titelstücks; "Dachsman in Berlin", eine faszinierend groteske Vorwegnahme von "Shanghaied..."; und das zum Einrahmen geeignete "Dachsman Meets the Blues" (jetzt als Version 1 angegeben), das allein schon das Eintrittsgeld wert ist: ein dermaßen Opium geschwängertes Stück, dass sein Konsum für illegal erklärt werden sollte (die Resonanzen, die man hört, stammen von einer akustischen Gitarre, auf der das Daxophon-Brettchen festgeklemmt war: die Einfachheit selber). Die bisher unveröffentlichten Stücke bieten mehrere Höhepunkte: die "Dschungelfanfare" von "Yo"; die Opern haften Melismen, die "Dachsman in Berlin (lI)" beenden; die perkussiven/ vokalistischen Qualitäten von "The Dawn of Dachsman (11)" (und was ist das, ein "Spoonful"-Zitat oder was?); das dynamische Wechselspiel zwischen der Melodie und dem "modulierten weißen Rauschen" in "Something East". Also ein in Verlegenheit bringender Reichtum, den wir hier haben. Wird nun gefälligst jemand die Musik dieses Mannes ins Radio bringen?

Übersetzung: Wulf Teichmann

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