FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 59

Ulrich Kurth

 

COWWS QUINTETT
GROOVES 'n' LOOPS

Noch haben wir 1993, ein Jahr, in dessen Verlauf nach den bei uns üblichen Jubiläumszyklen zahlreiche Feuilletons Beiträge zum Verlust der großen Utopien enthielten: 25 Jahre "1968". In diesen Erörterungen ging es natürlich auch um die Künste, und unter diesen spielt natürlich die freie Improvisation eine herausgehobene Rolle, weil sie wie kaum eine andere Sparte zum symbolischen Träger des großen Aufbruchs stilisiert worden ist. Gewiss, die Zeiten sind rauer geworden. Die Rezession bekommen die Träumer hart zu spüren, scheint doch abgesichertes Handwerk mehr gefragt zu sein als kühne Entwürfe, so recht nach dem Sprichwort vom Spatz in der Hand und der Taube auf dem Dach. Innerhalb der Musik erscheint ein dem Material immanenter Fortschritt nicht mehr möglich. Was wir erleben, sind Revivals aller Art oder aber Collagen. Elektizismus erscheint als Notwendigkeit in einem kaum mehr zu überblickenden Nebeneinander unterschiedlicher Möglichkeiten. Die verpflichtende Avantgarde existiert nicht mehr. An ihre Stelle sind individuelle Antworten auf die Frage nach einer stimmigen Musik getreten. Musiken aller Zeiten und Regionen sind plötzlich verfügbar, nicht zuletzt durch die digitalen Klangspeicher. Wir treffen immer wieder auf "Musik über Musik." Doch wie kann man sich dieser Situation stellen, ohne in Beliebigkeiten abzugleiten? Und wo bleibt das ästhetische Subjekt angesichts der (Pseudo-) Objektivierungen?

Grooves 'n' Loops - dieser Titel über dem Programm des COWWS-Quintetts löst zunächst Erstaunen aus, denn Musik mit eingängigen Rhythmen oder bandschleifenartigen Ostinati erwartet wohl niemand von diesem Ensemble. Schließlich gehören seine Mitglieder seit vielen Jahren zu den engagierten Verfechtern einer offenen Improvisationsmusik in Europa. Und gerade diese Offenheit ermöglicht Reaktionen auf Veränderungen.

Rüdiger Carl hat die Idee einer inszenierten Musik entwickelt, die mannigfaltige Bezüge zu unterschiedlichen musikalischen Welten aufbaut. Eines ihrer Wesensmerkmale ist das Zitat, aber nicht im Sinne eines direkten musikalischen Aufgreifens. Ein Walzertakt oder ein Funk-Riff geben gleichsam ein Bühnenbild. Eine zarte Andeutung sagt, es ist kein Walzer mehr, sondern lediglich die ferne Erinnerung an einen Walzer, freilich höchst assoziationsträchtig. Von hier aus entfaltet sich das Geschehen auf der imaginären Bühne, die musikalische Auslotung durch Improvisation, vornehmlich innerhalb von Interaktionsprozessen. Dabei geht es freilich anders zu als im traditionellen Jazz mit seinem Schema Thema - Improvisation - Thema. Nicht die melodische Variation ist das Ziel, sondern die musikalisch-gestische Entwicklung. Wesentliche Gestaltungsmerkmale sind Brechungen und collagenartige Überlagerungen sowie (gemessen an der Vorlage) klangliche Verfremdungen. So kommt etwa ein Funk-Pattern nicht brachial laut daher, sondern leise vom Bass gezupft, garniert mit einer Mixtur aus Klängen von Geige und Akkordeon, die völlig andere Assoziationen bewirken als die eines großstädtischen Tanzbodens. Die vorgegebenen Materialien werden an ihren Rändern gebrochen, sei es durch die Instrumentation oder aber das selektive Zitat. Damit eröffnen sich plötzlich Räume, die den Improvisatoren ihre Aktionen ermöglichen. Deren Ausgestaltung jedoch darf nicht der Beliebigkeit verfallen. Die angestrebte Einheit des Gestus erfordert von allen eine bewusste und auch sparsame Auswahl unter ihren gestalterischen Möglichkeiten.

Ein solches Konzept lässt sich nur mit souveränen Improvisationsmusikern und -musikerinnen verwirklichen, die in der Lage sind, die in Jahren erkämpften Freiheiten dem gestischen Prinzip unterzuordnen. Voraussetzung ist ein breiter Vorrat an Spielhaltungen sowie die Bereitschaft zu excellenter Kommunikation. Also ein ständiges, sensibles Reagieren zwischen zurückhaltender Begleitung oder gar Verstummen bis hin zum großen Solo. In solchen Auseinandersetzungen kann etwas Neues entstehen, eine Musik voller Subjektivität, die dem Augenblick verpflichtet ist und dennoch in ihren guten Momenten über ihn hinausweist. Kopf und Bauch sind dann keine Gegensätze mehr, ebenso wenig wie Komposition und Improvisation, sondern eine Einheit. Die Utopie der Freiheit von Herrschaft kommt anders daher als früher, nicht mehr fundamentalistisch. Sie findet ihren Ausdruck da, wo Musikerinnen und Musiker den gemeinsamen Diskurs bewältigen, sich selbst indes dabei treu bleiben. Und dann ist es kein Maskenspiel, sondern eine authentische Form von Kammermusik. Grooves 'n' Loops erschöpft sich nicht im Stilzitat samt irgendwie gearteter Auffüllung, sondern zeigt einen Weg ins Freie. Das Drama auf der gedachten Bühne verlangt alle nur denkbaren Affekte, Lachen und Weinen, Wut und Versöhnlichkeit ... Eine solche Folge entwickeln die Stücke des COWWS Quintetts. Die Erinnerungen verbleiben nicht nostalgisch, sondern aus ihnen erwachsen gestalterische Möglichkeiten jenseits aller Trends und Moden. Das schöne Spiel bleibt kein Spiel.

A propos Erinnerung: Im Spätsommer starb Jay Oliver ganz plötzlich in Berlin.

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