FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 57

Thomas Rothschild

 

Erkundungen im Ungewissen

Was man über Albert Mangelsdorff und seine Posaune sagen kann, gilt fast mehr noch für Alfred 23 Harth und das Saxophon: er benutzt sein Instrument, um Geschichten zu erzählen. Folglich lässt sich Harths Musik und seine Mitwirkung in verschiedensten Formationen beschreiben als permanente Suche nach (bislang unentdeckten) Sprechweisen. Anders als etwa Jan Garbarek, der unbeirrt bei seinem einmal gefundenen Ton verharrt und daher immer nach zwei Takten identifizierbar ist, begibt sich Harth stets aufs Neue ins Ungewisse, riskiert er, was jedem Forscher zustoßen kann: dass er nichts findet, was von Belang wäre. Aber gerade das macht Harths musikalische Erkundungen, für die ihm Saxophone längst nicht mehr ausreichen, so spannend. Denn er nimmt seine Zuhörer auf seine Reise mit, deklariert nicht vorneweg, was sie erwartet und was sie zu erwarten haben, lässt sie vielmehr staunen, wie er selbst darüber zu staunen scheint, was seinem Instrument und dem Zusammenspiel mit jeweils bedacht gewählten Partnern entspringt.

Die Geschichte der Musik ist über weite Strecken eine Geschichte des Wohlklangs, wie die Geschichte der bildenden Kunst lange eine Geschichte des gefälligen Bildes, die Geschichte des Theaters eine Geschichte von Anmut und Würde war. Wer aber Sprechweisen ausprobiert, wer die ganze Wahrheit (auch in der Musik) ausdrücken möchte, der kann nicht allein auf Wohllaut bauen. Das Wahre - Shakespeare oder Bosch immerhin wussten das - ist nun einmal nicht immer gut und schön (genau besehen ist es dies nur recht selten), und das Gute und Schöne ist oft nicht wahr. Und so scheut sich Alfred Harth nicht, Klänge zu produzieren, die unangenehm, ja quälend auf den (auf manche) Zuschauer wirken mögen.

Nun gehört es zu den Kniffligkeiten der Kunstrezeption, dass, was zu einem bestimmten Zeitpunkt irritierend, ja hässlich erscheint, schon bald, mit einsetzender Gewöhnung, Gefallen erregen kann. Vor dem unsere Tradition beherrschenden Hintergrund des Belcanto war der Gesang eines Bob Dylan {und vor ihm: eines Louis Armstrong) eine Provokation, und er galt - zunächst - als unschön. Diese Norm wurde mit der Zeit, jedenfalls innerhalb einer Subkultur, durch eine andere ersetzt. Und so muss immer wieder für neue Störung des bloßen Genusses gesorgt werden. Michael Gielen hat, um die ursprüngliche verstörende Wirkung von Beethovens Neunter Symphonie erfahrbar zu machen, einmal zwischen deren dritten und vierten Satz Schönbergs Überlebenden aus Warschau dirigiert. Er hat das eine Werk, in dessen Substanz er nicht eingreifen wollte, durch das andere verfremdet Im Jazz darf Harth sich ständig selbst verfremden, will sagen: seine bisherige Spielweise zu etwas Fremdem verändern, den "Automatismus der Wahrnehmung" überwinden, um ein Neues Hören zu ermöglichen.

Es gibt bei Alfred 23 Harth eine Affinität zum Dadaismus, die sich ausdrückt in seiner anarchischen Grundhaltung wie in seiner Vorliebe für witzige, oft unauflösbare Titel zu seinen Stücken und auch im Namen der Gruppen, mit denen er spielt: Cassiber, Duck and Cover, Gestalt et Jive. Warum etwa die Formation auf dieser CD sich Trio Trabant a Roma nennt, bleibt ein Rätsel - wie die 23 in Harths Namen oder der Titel State Of Volgograd. Die Rätsel lassen sich ganz rational lösen. Freilich nur mit Hintergrundwissen, das die Musiker schlitzohrig für sich behalten. Unmittelbar vor dem Konzert, das für die vorliegende CD mitgeschnitten wurde, waren die drei mit dem Projekt Oh Moscow von Lindsay Cooper und Sally Potter {Orlando) in Volgograd. Und in Strasbourg - siehe den vierten Cut - machte das Trio bei einem Festival für zeitgenössische Musik Station.

Die Rätselhaftigkeit {und der Witz) vieler Titel ergibt sich aus der Inkompatibilität ihrer Teile, aus der Tatsache, dass ihre Elemente syntaktisch oder semantisch nicht "zusammenpassen". Dieses Prinzip wiederholt sich in der Musik vieler Ensembles, mit denen Alfred 23 Harth arbeitete. Sie scheint immer wieder zu zerfleddern, ergibt kein Ganzes. Meint man nach einigen Takten, eine Orientierung gewonnen zu haben, wird die in Frage gestellt, als irreführend bloßgestellt Heterogenität ist eher Harths Prinzip als Homogenität, die oft eingeforderte "Geschlossenheit", die eng verbunden ist mit den traditionellen Konzeptionen von Schönheit Harth liefert, buchstäblich, Stück-Werk. Seine Ästhetik berührt sich mit der mancher Experimentalfilmer, die scheinbar zusammenhanglos Bilder montieren. {Übrigens: main movies et negentropical territories - so könnte auch ein Film von Jon Jost heißen}.

Im Übrigen hat Alfred 23 Harth - ähnlich wie Heiner Goebbels oder die englischen Avantgardisten, mit denen er gerne zusammenarbeitet - seine Musik stets als politische begriffen. Das darf man nicht in einem engen, platt abbildenden Sinne verstehen, und man sollte sich vor einer Vulgärmaterialistischen Interpretation dieser Musik hüten. Aber in der Regel entwickelt sie eine Argumentation, eine Folge von Gedanken, die häufig von einer revoltierenden Gebärde, zunehmend aber auch von einer Rückkehr zur Innensicht, zur gar nicht bescheidenen Besinnung begleitet sind.

Alfred 23 Harth spielt hier, wie erwähnt, nicht zum ersten Mal mit der Fagottistin und Saxophonistin Lindsay Cooper und mit dem Vokalisten Phil Minton zusammen. In der Engländerin hat er eine Geistesverwandte gefunden, was besonders deutlich wird, wo die beiden mittels diverser Blasinstrumente miteinander in Dialog treten. Das ist mal mehr ein Stammeln, dann fast ein Liebesgeflüster, das sich mal verdichtet, mal nahezu verstummt, mal in einen Streit zu geraten droht, den Phil Mintons Stimme zu schlichten scheint. In et all ways Budapest wiederum drängt sich die Stimme vorlaut zwischen die sich in seliger Harmonie wiegenden Keyboards von Alfred 23 Harth und Lindsay Cooper. Begegnungen mit Phil Minton hatte Harth bereits in der an Samuel Beckett erinnernden Gruppe Vladimir Estragon, auf einer CD mit dem schönen Titel Three Quarks For Muster Mark.

Zum erwähnten Stück-Werk passt es, dass immer wieder Zitate aufblitzen: weniger von konkreten Tonfolgen, als von Genres und Stilen wie etwa dem Chanson, dem Blues, afrikanischer Folklore.

Diese CD wurde, das soll nicht unerwähnt bleiben, im Esslinger Kulturzentrum Dieselstraße aufgenommen. Hier wird, wie an verschiedenen, oft unscheinbaren Orten in der Republik, jahraus-jahrein vorzüglicher Jazz angeboten. Kommunen schmücken sich gerne mit Festivals, die über ein paar Tage spektakuläre Highlights konzentrieren. Dafür lassen sich auch in Sparzeiten Subventionen locker machen, das sorgt für Schlagzeilen. Die kontinuierliche Arbeit am Jazz, die manche, in der Regel unter Selbstausbeutung, leisten und die allein die etwas altbackene, deshalb aber nicht minder ehrenwerte Bezeichnung Kulturpflege verdient, bleibt in der Regel unbeachtet und unbedankt Die Dieselstrasse, zum Beispiel, bietet, auch wenn man es nicht so nennt, ein permanentes Jazzfestival. Einer der Höhepunkte ist auf der vorliegenden CD festgehalten.

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