FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 53

Steve Lake

 

DIE GROSSE KLUFT UND WIE MAN SIE ÜBERWINDET

In Ebba Jahns Dokumentarfilm Rising Tones Cross über die New Yorker Improvisationsszene Mitte der achtziger Jahre spricht Peter Kowald, der damals im "Big Apple" lebte, über die großen Unterschiede zwischen schwarzen und weißen Improvisatoren in Amerika - Unterschiede, die Gagen, Publikumszahlen, Engagement der Plattenfirmen und Medienpräsenz betrafen und kaum einen Bereich der experimentellen/avangardistischen/freien Musik verschonten. Natürlich war es damals angesichts einer in zwei Lager zerfallenden Jazzpresse verführerisch Verschwörungstheorien zu pflegen. Nach Meinung amerikanischer Zeitschriften hatte man sich zu entscheiden zwischen dem traditionell gesinnten Marsalis-Clan und seinen Anhängern - selbsternannte "Retter des Jazz", deren edles Werk von Plattenfirmen tatkräftig unterstützt wurde - und der weißen Downtown-Szene um John Zorn, der fast ein Jahrzehnt später in Publikationen wie Jazziz immer noch als Speerspitze der Avantgarde gefeiert wird. Auf der anderen Seite des Atlantik versuchte man unterdessen, amerikanische Kreativität herabzuwürdigen. In einer Titelgeschichte des Wire wurde die Frage gestellt (und. im weiteren Verlauf natürlich positiv beantwortet): "Ist nicht eigentlich Europa der Ort, an dem sich Jazz heute am interessantesten weiterentwickelt?" Gleichzeitig schütteten diverse "alternative" Jazzfestivals in unseren Breitengraden das Kind gleich mit dem Bade aus: Bestrebt, sich von der "Zurück zum Bebop" - Bewegung zu distanzieren, wurden sie zu Verfechtern einer europäischen "Kreativitätsvorherrschaft" und sperrten amerikanische Anwärter kurzerhand aus. Die Folge war, dass Musiker, die es auch unter günstigeren Bedingungen alles andere als leicht hatten, plötzlich noch weiter im Abseits standen. Wichtige Vertreter einer Richtung, die einmal als "New Thing" firmierte und jetzt in manchen Kreisen "fire music" heißt, verschwanden für mehrere Jahre nahezu völlig von der Bildflache. So launisch ist der Zeitgeschmack. Die Musik wird natürlich weiter gespielt, auch wenn niemand zuhört.

Mittlerweile haben sich die Dinge ein wenig gebessert. Charles Gayle zum Beispiel kann nunmehr so etwas wie eine Diskographie vorweisen (zwei seiner Alben sind sogar auf dem Knitting-Factory-Label erschienen), und FMP, einst das Flaggschiff des deutschen Free Jazz, hat mehrmals europäische Improvisatoren mit ihren amerikanischen Zeitgenossen und Vorbildern zusammengebracht. Die 91er Auflage des Total Music Meeting setzte diesen Trend fort: Zum ersten Mal in der Geschichte dieser Bastion europäischer Improvisation waren die Amerikaner in der Überzahl. (Ich erinnere mich, dass Rashied Ali ein T-Shirt mit dem Sternenbanner trug, weiß aber nicht, ob das ein politisches Statement sein sollte oder ob er einfach nur seine Reisegarderobe erschöpft hatte.) Die Spielregeln waren einfach und von den Musikern selbst aufgestellt: drei Saxophonisten, drei Bassisten und drei Schlagzeuger, die man im Verlauf des Wochenendes in allen möglichen Kombinationen hören konnte - von Soli und Duos bis hin zu ausgedehnten Jams in voller Besetzung. Die Protagonisten waren Peter Brötzmann, Charles Gayle und Evan Parker (diverse Saxophone), Fred Hopkins, Peter Kowald und William Parker (Bass) und Rashied Ali, Andrew Cyrille und Tony Oxley (Schlagzeug). Eine derart spielstarke Mannschaft hatte natürlich nur wenig "nicht-idiomatische" Improvisation im Gepäck. Im Gegenteil, die Musik war durchaus von Tradition geprägt (im besten Sinne des Wortes) - Touchin' On Trane (siehe FMP 48), auch Albert machte sich bemerkbar, der raue (und universelle) Blues, und einiges mehr. Ein paar Überraschungen gab es auch, und dieses fast "balladeske" Trio-Set gehört sicher dazu. Beinharte Machine Gun-Fans werden wohl erstmal die Vorlauftaste betätigen, um sicherzugehen, dass es sich bei dem so ungewohnt sanft säuselnden Saxophonisten tatsächlich um Peter Brötzmann handelt.

Peter beschwert sich schon seit Jahren, das Etikett "Lautester, wuchtigster Free Jazzer von allen" hafte auf ihm wie ein Fluch - ohne uns allerdings allzu oft eines besseren belehrt zu haben. Hier nun führen ihn Fred Hopkins und Rashied Ali mit ein wenig sanftem Druck in neue Bereiche. Nach landläufigen Kriterien haben wir es zwar mit einem Saxophon-Trio zu tun, aber tatsächlich sind es der Bassist und der Schlagzeuger, die den Kurs abstecken, und Brötzmann folgt ihnen, so gut es eben geht. Der Versuch allein - und die Bereitschaft, sich so zu entblößen - nötigen Bewunderung ab, aber es lässt sich nicht verleugnen, dass die Grenzen seiner Technik in dem gemeinsam erforschten Terrain mitunter schmerzhaft deutlich werden. Solange Brötzmann sich in dem Genre bewegt, das er in den 60ern selbst mit ins Leben rief (sein For Adolphe Sax kam vor Albert Aylers Love Cry!), in dieser hochemotionalen Zone, in der es "nicht um Noten, sondern um Gefühle" geht, kann ihm kaum jemand das Wasser reichen. Liebe und Hass, Leidenschaft und brutale Gewalt aus dem Horn quellen lassen, das kann er. Brötzmann hat sein eigenes System entwickelt, um solche Gefühle durch Klangfarben, Klangstrukturen und Energie zu transportieren, und oft genug die "Spezialeffekte" andrer Spieler in Kunst verwandelt, (nicht selten versinken ganze Konzerte in einem ekstatischen Wirbel überblasener Töne).

Natürlich finden sich in seinem Oeuvre auch ein paar vereinzelte "reflektive" Passagen, aber nirgendwo muss er so häufig zu den "changes'' (oder doch wenigstens einer abstrakten Vorstellung davon) zurückkehren wie hier. Eine der Widersprüchlichkeiten in Brötzmanns musikalischem Weltbild ist, dass er, obwohl Mitentwickler des "experimentellen" Jazz, am Experimentalismus an sich wenig Gefallen findet. Bechet und Coleman Hawkins sind ihm ebenso wichtig wie Ayler, und Billie Holiday bedeutet ihm mehr als alle "freien" Sängerinnen zusammengenommen. Selten fühlt er sich wohler als in Gesellschaft eines Schlagzeugers, der sich in der Jazztradition auskennt (bis zurück zu Baby Dodds); er wird unruhig, sobald Konzerte in das abdriften, was er "diese europäische Avantgarde-Scheiße" nennt. Die Heftigkeit seiner Performance bietet ihm ein Ventil für etwas Echtes, Unberechnetes, das frei ist von der Last intellektueller Überlegung. Mit einem Mangel an Reflexion hat das jedoch nichts zu tun: Als Deutscher und ehemaliger Kunststudent - eine tödliche Mischung! - ist er durchaus in der Lage, eine gewisse Distanz zu seinem Selbstbild und Saxophon-Sound zu bewahren, und vielleicht baut er darauf, dass die mehr oder weniger geglückten harmonischen Annäherungen an Fred Hopkins in unseren Ohren eine eigene Prägnanz gewinnen. (Ungeschicklichkeit kann ja mitunter auch ganz charmant wirken.) Hopkins wiederum versucht, Peters unergründlichem Balladenschema zu folgen - angesichts seines nahezu perfekten Tonbewusstseins eine großzügige Geste. Wie auch immer, ein Teil der Hörer wird sicher gehörige Erleichterung verspüren, wenn Brötzmann zur Halbzeit die Intensität mit den für ihn typischen verzerrten Phrasen und Klangfetzen um etliche Grade steigen lässt , und Intonation, das alte Schreckgespenst, kein Thema mehr ist. Die Möglichkeit, "temperierten" oder "untemperierten" Jazz zu spielen, gibt es zwar seit Ornettes ersten Auftritten, aber man hätte doch gern das Gefühl, dass der Künstler sich frei entscheiden kann!

Fred Hopkins habe ich das erste Mal 1975 in New York gehört, als er zwischen zwei Sax/Bass/Schlagzeug -Trios pendelte: dem David Murray Trio und Air. Mit seinem damals wie heute beeindruckend mächtigen und kraftvollen Ton war er Dreh- und Angelpunkt beider Gruppen. Seitdem hat er wichtige Beiträge zur Musik von Muhal Richard Abrams, Oliver Lake, Don Pullen, Hamiett Bluiett und vielen anderen geleistet. Wenn man "freie" oder "Avantgarde"-Musiker in zwei Kategorien aufteilt, die "Klangspieler" und die "Ideenspieler", dann gehört Hopkins zweifellos zur letzteren Gruppe. Sein Spiel kreist um die Ausarbeitung und Entwicklung rhythmischer und melodischer Einfälle, die auf beliebige Abschnitte des afro-amerikanischen Musikkontinuums Bezug nehmen können - man erinnere sich nur an die frühen Aufnahmen von Air, auf denen er sich unter anderem von Burundi-Trommeln und Jelly Roll Morton inspirieren ließ, um das rhythmische Grundgerüst auf immer neue Weise zu akzentuieren. Gleichzeitig weiß er um das Gewicht seines Instruments, die Kraft, die von ihm ausgeht, und es scheint ihm völlig unmöglich zu sein, jemals etwas Banales zu spielen. Und er weiß, wie man Noten mit einer atemberaubenden emotionalen Kraft erfüllt und einen unwiderstehlich vorwärts drängenden Impuls aufbaut.

Manchen wird es möglicherweise überraschen, dass Rashied Ali hier für Brötzmann seine Drumsticks auspackt, nachdem er sich jahrelang nahezu ausschließlich in einer Art militantem Selbsthilfe-Netzwerk mit eigenem Club in New York (Ali's Alley), eigenem Label (Survival) und einem festen Kreis musikalischer Weggefährten betätigt hatte. Rashieds Unabhängigkeitsphilosophie, die in den 70erJahren - von anderen Musikern kopiert - zur plötzlichen, aber kurzen Blüte der "Loft-Szene" beitrug, wurde ihm zum Teil durch die Mainstream-Jazzgemeinde aufgezwungen, die ihn geflissentlich ignorierte. Im Grunde ist er nämlich ein durchaus geselliger und vielseitig interessierter Musiker. Nur wenige wissen, dass Rashied zu den ersten Vertretern der amerikanischen "New Think"-Bewegung zählte, die Kontakt mit der europäischen Jazz-Avantgarde aufnahmen. Schon ein Jahr nach Coltranes Tod kam er nach London, wo er mit dem Spontaneous Music Ensemble Aufnahmen machte. Zur damaligen Besetzung gehörten unter anderem Evan Parker, Trevor Watts, Dave Holland, Peter Kowald und John Stevens. In den 80er Jahren tourte er mit einer angenehm unverkrampften Jam-Band namens There Goes The Neighbourhood, in der ihm Hot-Tuna-Gitarrist Jorma Kaukonen und Mundharmonika-Virtuose Sugar Blue zur Seite standen, durch Rock- und Blues-Clubs. Tunnelblick konnte man ihm also wirklich nicht vorwerfen. Beim Total Music Meeting 1991 sahen ihn seine Kollegen - und viele Zuhörer - jedoch vor allem als Abgesandten seines einstigen künstlerischen Umfelds, des späteren Coltrane-Zirkels. Selbst nach so vielen Jahren ist es für einen europäischen Saxophonisten unmöglich, sich neben Rashieds pulsierenden, funkelnden, in verschiedenste Richtungen strebenden Rhythmen zu präsentieren und dabei nicht an Meditations, lnterstellar Space, Expression und den Rest jenes Ehrfurcht gebietenden Erbes zu denken. Von der "Emanzipation" des europäischen Jazz, in Fachkreisen gern und ausführlich diskutiert, ist nach derlei Praxistests meist nicht mehr viel zu spüren. (Und wo wir schon mal dabei sind, können wir ebenso gut gleich zugeben, dass ein großer Teil der Geschichte des Total Music Meeting - wenn auch nicht die ganze - geprägt ist vom Ringen mit den Geistern, die Coltrane auf Ascension rief. Dem Jazz-Establishment ist es bis heute nicht gelungen, sie wieder loszuwerden.)

Obwohl ihn die Presse vorzugsweise als ultradeutschen, ja sogar teutonischen Saxophonisten darstellt (was immer das heißen soll), hat Brötzmann in den letzten 15 Jahren oft versucht, Brücken zu der amerikanischen Free- oder Post-Free-Enklave zu schlagen. Zurückzuführen ist das besonders auf ein emotionales Bedürfnis nach amerikanischem Rhythmus, der, wie er meint, selbst in seinen abstraktesten Formen der Musik mehr Halt gibt als sein verkümmertes europäisches Gegenstück. Daher seine Arbeit mit Andrew Cyrille, Milford Graves, Dennis Charles, Hamid Drake und eben Rashied Ali. Auf Aufnahmen wie dieser sind wir Zeugen einer weiteren Runde einer Debatte, die schon auf mehreren FMP-Alben geführt wurde - vor allem auf Cecil Taylor In Berlin '88, aber auch auf Smoke, Alex Schlippenbachs Zusammentreffen mit Sunny Murray, Brötzmann's Alarm mit Frank Wright & Co. und dem oben erwähnten Projekt mit Cyrille, Peter Kowalds Klangforschungen mit Danny Davis und Wadada Leo Smith ... Ein Thema, das in allen bisherigen Runden behandelt wurde, lautet: Werden die verschiedenen Strömungen des Free Jazz immer noch aus dem "gemeinsamen Reservoir" gespeist, von dem Coltrane sprach? Ist das Ergebnis der Gruppenimprovisation in allen Sprachen verständlich, oder sind individuelle Dialekte bereits so übermächtig geworden, dass echte Kommunikation in den Hintergrund tritt? Haben die Spieler genug gemeinsam, um etwas tatsächlich Substantielles zu schaffen? Wird in der Musik eher Konkurrenzdenken oder der Wille zur Kooperation spürbar? Stehen wir am Beginn oder am Ende einer Entwicklung?

Alle diese Fragen werden hier erneut aufgeworfen.

Übersetzung: Caroline Mähl

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