FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 52

Fredi Bosshard

 

Herr Carl et Madame Léandre

Die erste musikalische Begegnung zwischen Herrn Carl et Madame Léandre hat, nicht zuletzt auf Anregung der Pianistin Irène Schweizer, 1990 in Stuttgart stattgefunden. Vorangegangen ist ein von Rüdiger Carl organisiertes Konzert für Joëlle Léandre im Frankfurter Portikus. Die jetzt vorliegenden Aufnahmen entstanden zwei Jahre später im Juli während dem «Workshop Freie Musik '92» in Berlin - allerdings nicht als Liveaufzeichnungen - Duos hatten keinen Platz, der Workshop präsentierte fünf Piano-Solos und fünf Trios. Eines davon war dasjenige mit Joëlle Léandre, Rüdiger Carl und dem aus Portugal stammenden Carlos Zingaro, das inzwischen Canvas Trio heißt. Es setzt sich vor allem mit den Ideen/Kompositionen Joëlle Léandres auseinander und versteht es hervorragend, diese auf der musikalischen Leinwand zu gestalten.

In der heißen Zeit am Nachmittag haben der Akkordeonist, der gelegentlich die Klarinette spielt und die Bassistin, die auch singt, die 21 Miniaturen zwischen Oui-non (A) und Oui-non (B), die weitgehend auf Spielkonzepten von Rüdiger Carl basieren, eingespielt. Lässt das Oui des Herrn Carl gelegentlich auch noch: das deutsche Wie anklingen und damit eine der Kernfragen der freien Improvisation stellen, die dann im Prozess des Spiels beantwortet wird, so zeigt sich in diesem Gegensatzpaar schon deutlich die Richtung, die «Blue Goo Park» einschlägt, weist auf die Reibungsflächen hin, die zwischen ihnen bestehen. Rüdiger Carl singt das Oui von den zaghaften Anfängen über einige dramatisch getragene Ouis bis zum wild entschlossenen abschließenden Oui. Dass Madame Léandre ein nuancenreiches Non wählt, erstaunt nicht, gehört sie doch eher zu den sich verweigernden Individualistinnen der Sparte - womit keinesfalls gesagt werden soll, dass Herr Carl ein Jasager sei und auch nicht, dass Joëlle Léandre immer nein sagt - nur weiß sie sehr genau wann. Allgemein gesprochen: Jasager und Jasagerinnen sind in diesem Bereich der Musik so selten wie Haare auf Lol Coxhills Kopf.

Rüdiger Carl hat als Tenorsaxophonist begonnen, Klarinette gespielt und gelegentlich, beinahe als Kuriosität, zum Akkordeon gegriffen. Es scheint kein Zufall, dass die 1978 zusammen mit Hans Reichel eingespielte LP «Buben» betitelt wurde, damit Erinnerungen an erste Musikstunden weckend, führt sie den Saxophonisten an der Concertina vor und zeigt den Gitarristen als Violinisten. Joëlle Léandre hat in Aix-en-Provence mit der Plastikflöte begonnen, dies nur als Randbemerkung. Inzwischen ist Rüdiger Carl zum Akkordeonisten und Klarinettisten geworden, der auch Saxophon spielt, aber auf <<Blue Goo Park>> tut er das nicht. Dafür gibt es ja die Beispiele mit Irène Schweizer, Alexander von Schlippenbach und Sven-Åke Johansson. Allesamt Free-Jazz Pioniere der ersten Stunde, die in verschiedensten Projekten an den Erweiterungen des klanglichen Spektrums arbeiten, Grenzüberschreitungen wagen und immer wieder neue Verbindungen eingehen. Nicht nur für Rüdiger Carl sind in den vergangenen Jahren Kompositionen, Spielkonzepte, strukturierende Vorgaben und vorgegebene rhythmische Gliederungen in der Musik wichtiger geworden. Seine Arbeit mit dem COWWS Quintett (Jay Oliver, Phil Wachsmann, Stephan Wittwer, Irène Schweizer) illustriert diesen Wandel bestens. Mit Joëlle Léandre hat er eine ideale Partnerin gefunden, ist eine musikalische <<folie à deux>> eingegangen. Sie, die sich seit Jahren gleichermaßen der Komposition, ich denke da an Soloeinspielungen mit eigenen Werken und denjenigen von John Cage, Giacinto Scelsi, Sylvano Bussotti u. a., wie der freien Improvisation angenommen hat, erinnert sei an ihre langjährige Zusammenarbeit mit Maggie Nicols, Irène Schweizer, Barre Phillips, Jon Rose u. a., ist nebst Bassspielerin auch Sängerin - sie hat ihre Stimme einmal als fünfte «Saite» bezeichnet - und Performerin. Ihre Auftritte sind immer voller Dramatik, ob sie nun den Bass wie eine monströse Gitarre hält oder von Chicago aus nach ihrem Hund und den Katzen in Paris ruft wie auf «Ron Ronade» und uns so die Sehnsüchte der Tourneemusikerin spüren lässt. Sie erzählt uns singend und mit dem Bass Geschichten, lässt uns an ihrem privaten Leben teilnehmen, gewährt uns Einblicke. Eine Wanderin zwischen den Welten, die ein selten inniges, körperliches und gleichzeitig gespaltenes Verhältnis zu ihrem Instrument pflegt, es streicht und zupft, streichelt und schlägt, darauf rumschabt und zum Quietschen bringt - ihm unerhörte und ungehörte Töne entlockt.

Diese Art Musik bringt die Reise mit sich, nicht nur physisch auch psychisch. «Blue Goo Park» ist Ausschnitt aus einem Roadmovie, das nicht nur einen Film lang dauert und unzählige Varianten kennt. Es ist die bewusste Entscheidung zweier Individuen für den Augenblick. Ihre Lebensentwürfe treffen aufeinander, nähern sich an und entfernen sich wieder - oui/oui, oui/non, non/oui, non/non. Was sie aus der Begegnung gemacht haben, lassen sie uns hören. Sie umschleichen sich musikalisch, lassen Urtöne erklingen, Rüdiger Carl grummelt auf dem neuerworbenen Free-Bass-Converter-Akkordeon, und Joëlle Léandre hält mit dem gestrichenen Bass dagegen, um dann die klangliche Annäherung dem in Erkenschwick lebenden Moondog zu widmen, oder sie lassen den flandrischen Riesen etwas hinkend durch die Lande ziehen, dessen Akkordeonstimme mit beinahe volksliedhafter Leichtfüßigkeit vom Gesehenen berichtet. «Von wo das kommt, da will man hin». Dieser programmatische Titel impliziert Nostalgie und Sehnsucht, lässt Bekanntes anklingen - Musette, Chansons ohne Worte - eine auf zitternden Beinen stehende Freundschaft vermuten, dazu ein Bass, wohlklingend und kräftig, wie derjenige von Charlie Haden und die gleiche Melancholie verbreitend. Einerseits die Hinwendung zur Tradition, zur eigenen Geschichte und gleichzeitig dorthin gelangen wollen, wo noch niemand gewesen ist, die ausgetretenen Pfade vermeiden, neue Spuren in den Sand treten, sich selbst und das musikalische Gegenüber immer wieder überraschen - und die Hörerinnen und Hörer natürlich auch. «Blue Goo Park» ist Musik außerhalb jeder Kategorie, Musik zu einem noch nicht realisierten Film, der erstmals beim Anhören in unseren Köpfen entsteht. Oui!

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