LOST RIVERS (Gewidmet meinen Lehrern. S. N.)
Menschen singen.
alle Menschen dieser Welt - ausgenommen Taubstumme, Kehlkopfoperierte
und sonst wie Gehinderte - singen. Meistens Lieder.
Mit Anlässen, und ohne:
bei Feiern, bei der Arbeit, in Kellern, auf Bergen, in Gasthäusern,
in Chören, im Fernsehen, im Dunkeln, auf Bühnen, in Kindergärten,
Badewannen, Kirchen, auf Pferden, in Wagen, an Deck, am Anfang der Schulstunde,
am Ende der Kneipentour, zum Geburtstag, beim Begräbnis.
Für Geld. Vor Vergnügen, aus Angst, mit Freude, wegen Trauer,
zum Spaß.
Das hat mit vielerlei zu tun wie Einsamkeit/Gemeinsamkeit, Lust/Schmerz
usw., jedenfalls aber mit Stimmen:
hohen, tiefen, schönen, rauen, festen, glatten, gebrochenen, sauberen,
schrägen, leisen, lauten. Mit Atmen hat es natürlich auch zu
tun.
Sainkho ist Sängerin
(wie wir alle: ich habe sie in der Küche, im Zugabteil, auf der Straße,
im Restaurant singen hören).
Sainkho ist Sängerin
(wie sonst niemand: sie hat's auf dem Konservatorium studiert,
hat sich entschieden, auf Bühnen zu singen. Das ist nichts
besonderes.
Sie singt hoher, tiefer, schöner, rauer, fester, glatter,
gebrochener, sauberer, schräger, leiser, lauter als die meisten
von uns. Das ist etwas Besonderes.
Und (auch das ist etwas Besonderes), jedenfalls in Wuppertal:
sie kommt aus Tuwa:
Tuwa ist eine kleine Republik der (sich in diesen Tagen auflösenden)
Sowjetunion in Südsibirien an der Nordgrenze der Mongolei, östliche
des Altai-Gebirges zwischen den Sajan- und den Tannu Ola-Bergen, die Hauptstadt
Kysil wurde als das geographische Zentrum Asiens ermittelt (siehe Obelisk
dort).
Wie in der benachbarten Mongolei (trotz vieler Kultur-Ähnlichkeiten:
tuwinisch ist eine mit dem Mongolischen nicht, aber mit dem modernen Türkisch
verwandte Turksprache) lebte man, frau und kind bis vor kurzem (Sainkho's
Großeltern noch) als Nomaden, mit Pferden, Schafen, Yaks und Kamelen,
und in Jurten, den Zelthäusern aus Fellen, Leinstoff und Filz
Musik in Tuwa, das ist weniger die Musikschule in Kysil als Mundharfen,
Knie- (auch Pferde genannt) Geigen und in erster Linie Gesungenes
Die Gesänge fallen im Vergleich zu unseren Volks-, Pop- und Kunstliedern
durch (ihre ungewöhnlichen Triller und) ihren Obertonreichtum aus
dem bei uns bekannten Rahmen eine Stimme produziert zwei, gelegentlich
drei klar zu unterscheidende Töne gleichzeitig (vertikal sozusagen),
indem sie über einen Bordun-Grundton durch Bewegung von Lippen, Zunge,
Unterkiefer, Gaumen, der Mundhöhle insgesamt die Obertöne dieses
Grundtons - manchmal mehrere Oktaven höher - zu einer Melodie formt
(der Name für dieses Obertonsingen ist auch in Tuwa das mongolische
Wort "khomei" für Rachen/Kehle).
Überlieferung 1)
sagt, dass beim Reiten das Hufgetrappel der Pferde von der singenden Stimme
nicht überfönt werden konnte und man so auf die höheren
und mehr durchdringenden Obertöne kam (man, denn diese Singweise
war bis vor kurzem (s. o.) ausschließlich Männern vorbehalten,
man glaubte, bei frau führe sie zu Unfruchtbarkeit). Inzwischen singen
auch Frauen (siehe/höre Sainkho) in diesem Stil/mit dieser Technik.
..
Überlieferung 2)
sagt, die Schamanen haben sehr auf den Klang ihres - singenden - Bogens
gehorcht, der gezupft oder gestrichen wurde, und hörten besonders
die Melodie des einzelnen Tons, seine Klangfarbe, sein Timbre, eben die
Oberföne. Man und frau waren also seit frühen Zeiten (und von
Kindesbeinen an) in der Lage, die physikalische Grundstruktur der Töne
zu erkennen, und man konnte über die ursprüngliche Eintönigkeit
die "Melodie der Klangfarbe" verwirklichen.
Überlieferung 3) 4) 5) usw. sind mir nicht bekannt.
Jedenfalls:
Sainkho sagt, dass ihr Vater (beide Eltern waren übrigens Lehrer
und leben heute in Kysil) sich für Musik interessiert und viel singt.
Sie lernt Musik auf der Musikhochschule, erhält aber vom Philharmonischen
Komitee in Tuwa nicht die zur Arbeit als Sängerin notwendige Berufserlaubnis
und geht auf eigene Faust nach Moskau, wo sie akzeptiert wird. Gleichzeitig
lernt sie die kultischen, schamanistischen und buddhistisch-lamaistischen
Singtechniken ihrer sibirischen Heimat. Schamanistische Traditionen haben
nach der Revolution 1922 insgeheim überlebt, während die buddhistisch-lamaistischen
(bei uns eher durch tibetanische Mönche bekannt), nach 1922 in Tuwa
ganz verschwinden aber natürlich nicht aus der Welt sind, auch in
Tuwa nicht).
Anekdote 1)
Während unserer Konzertreise in Sibirien im Mai 1991 lernte ich in
Kysil auf einer Party (der Wodka wurde in großen Gläsern gereicht)
einen Schamanen kennen, den ich all zu naseweis (in Wuppertal trifft man
eben seIten Schamanen) über Schamanistisches befragte. Er antwortete
,,kommtrinkenwirerstmaleinen" und verlor den weiteren Abend kein
Wort über Schamanismus. Ich habe auch kein zweites Mal gefragt.
Anekdote 2)
Ein Sänger der traditionellen Obertonmusik, der auf derselben Party
einige Stucke vorgesungen halte, erklärte mir (und hielt dabei Daumen
und Zeigefinger 2-3 Millimeter auseinander): die Musik muss durch ein
kleines Loch, einen ganz schmalen Kanal hindurch. Das ist schwer, aber
sie muss da hindurch. Und wenn sie durch ist, dann kann sie sich öffnen,
weit öffnen, und es sind dann all die Tiere und der Wind, die ganze
Natur ist zu hören. Aber erst muss sie durch dieses kleine Loch.
Sainkho singt seit 1986 Konzerte und geht auf (auch internationale) Tourneen
mit traditioneller tuwinisch-sibirischer Musik (Sainkho, die Folkloresängerin).
Ab 1988 arbeitet sie mit der Improvisationsgruppe TRIO und dem Wassiliew-Theater
in Moskau (Sainkho, die Neue Musik-Sängerin (sehr unklarer Begriff,
ja ich weiß).
LOST RIVERS
ist Sainkhos erste Produktion einer Platte ('ne CD ist ja noch platter
als 'ne Platte) unter ihrem Namen und in eigener Regie, sie ist zur gleichen
Zeit Bestandsaufnahme und so etwas wie eine Visiten Karte. Die Bänder
entstanden an drei Nachmittagen im Studio ohne spezielle Vorbereitung
für diese Produktion. Von den verschiedenen Stücken/Liedern/ldeen
wurden nur wenige Versionen aufgenommen, und die sind kaum verändert
oder bearbeitet, also nicht verfeinert, geglättet oder sonst wie
raffiniert, sondern in gewachsenen, puren, sozusagen rohen Zustand gelassen
worden, Lebendigkeit war wichtiger als Perfektion. Mich als Produzenten
(was immer das ist: in diesem Fall jemand, der bei den Aufnahmen dabei
ist und ab und zu ein bisschen Mut und Tee macht) und selbst Musiker erstaunte,
wie Sainkho ohne Zittern und Zagen, ohne Staus und Blockaden (s. u.) (nämlich
ohne Mitmusiker und Publikum) ihre Töne gegen die unsuggestive, eher
antiseptische Atmosphäre des Studios stellen konnte (da kenn ich
auch andere Erfahrungen, auch eigene).
LOST RIVERS
Sainkho erinnert sich, dass in der Nähe des Dorfes, "wo sie
aufwuchs (ein heute verlassenes Goldgräberdorf), ein kleiner Fluss
eines Tages versiegt war. Einige Jahre später findet sie ein Buch,
eine Art Katalog Versiegter, verschwundener Flüsse Russlands: das
Bild bleibt und führt zu diesem Titel.
Fluss meiner Gedanken: in der Kulturgeschichte des Abendlandes (Ausnahmen
von Heraklit bis Fluxus bestätigen die Tendenz) ist ja das Bild des
Fließens (und -lassens) unpopulär: da wird doch eher auseinander
genommen und in Stücke geschnitten, separiert, analysiert, spezialisiert.
Gut und richtig sehe ich, dass wallendes Fühlen und wollendes Denken
in uns Platz haben
Lebens-wichtig finde ich, dass es dazwischen ordentlich (oder auch un-)
hinundherfließt.
Dass unsere Welt in diesen Zeiten, wie sie aussieht, aussieht, hat eben
sehr mit Staus und Blockaden zu tun.
Siehe Sainkhos Titel.
Und höre Sainkhos Musik: da fließt allerhand. Und das macht
- neben ihren künstlerischen Fertigkeiten - ihre Musik so richtig.
Punkt.
Dank:
dem Jost für unter anderem sein Vertrauen in sich (Sainkho war ihm
vor der Produktion kaum bekannt), in Sainkho und mich. Und in diese
kleine komische Scheibe (hält eine CD 74 Minuten unbegleitete Solostimme
aus?),
dem tomas, bei dessen schreibe (und denke, geht so was?) ich versucht
habe abzukucken (schon der versuch ist strafbar, sagte der Lehrer bei
der Klassenarbeit),
und Sainkho für ihr Vertrauen in den Produzenten (sie hat mir dann
Auswahl, Schnitt und Reihenfolge der Stücke ganz allein überlassen
und
nicht geändert). Und besonders für ihre Musik.
Denn: Sainkho ist Sängerin. Wie niemand von uns und wie sonst keine.
Nochmal Punkt.
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