FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 37

Steve Lake

 

. . . wurde die Aufmerksamkeit bereits auf den Sinn für Beständigkeit gerichtet, der den Ausruf"Bleibe bei uns" beherrscht, sowie auf den Sinn für den Fluss, der sich im Nachsatz durchsetzt: "denn es will Abend werden". ideale gruppieren sich um diese beiden Vorstellungen von der Beständigkeit und vom Fluss. Im unausweichlichen Fluss gibt es etwas Bleibendes; in der überwältigenden Beständigkeit steckt ein Element, das in den Fluss entkommt. Beständigkeit kann nur dem Fluss entrissen werden; und der vergängliche Augenblick kann die ihm angemessene Intensität nur durch seine Unterwerfung unter die Beständigkeit erreichen. Wer die beiden Elemente trennen möchte, wird keine Interpretation offenkundiger Tatsachen finden.
A. N. WHITEHEAD, "PROCESS AND REALITY", 1929

"E cantero di quel secondo regno,
Dove l'umano spirito si purgo,
E di salire al ciel divanta degno."
DANTE: "PURGATORIO I - CANTO I"

Auf diesem rundum erstaunlichen Album dehnt Europas vorderster Solosaxophonist seine Erkundungen über sein Instrument hinaus aus und betritt die Welt des vielspurigen Aufnehmens, indem er sich die Technologie des Tonstudios als zusätzliches Werkzeug zunutze macht.

"Zur Zeit sehe ich eine interessante Herausforderung darin, freies Improvisieren mit dem Aufnehmen im Studio auf eine etwas andere Weise in Einklang zu bringen", sagte Evan Parker Anfang dieses zu dem Journalisten Graham Lock. Im Gegensatz zu seinen früheren Solo-Alben besteht Process And Reality vorwiegend aus kurzen Stücken. "Man kann mit kurzen Dauern arbeiten, und das ist fast wie der Versuch, eine längere Form durch Verwendung kurzer Stucke zu improvisieren. Da mochte ich hinkommen. Während des Vorangehens edieren, die Stucke im Rahmen der größeren Form bauen, die man zu entwickeln scheint."

Das ist ein aufregender und wahrscheinlich notwendiger Schritt in der Entwicklung der Musik. In der Vergangenheit haben Improvisatoren selten Gelegenheit gehabt, Platten zu machen. Meistens taucht ein Produzent einen Eimer in den großen improvisierenden Fluss und zieht ein Dokument an Land, dessen täuschende "Permanenz" - es sieht aus und fühlt sich an wie eine Platte - fast beliebig dem kreativen "Fluxus" entnommen ist. Vinko Globokar meinte, Free Music-Alben sollten ein einziges Mal gehört und dann weggegeben werden, dies sei die einzige Möglichkeit, der Hier-und-Jetzt-Gerichtetheit der Musik treu zu bleiben. Nun, ich würde mein Exemplar von Parkers Collected Solos nicht kampflos hergeben, aber ich weiß, dass Aufnahmen nur einen Bruchteil der ganzen Musik einfangen. Etwas bleibt, etwas Kostbares sogar, aber was ist mit den großartigen nicht gesammelten Soli? Was ist mit der elektrischen Erregung des Entdeckens im Moment des Entstehens? Man muss hinnehmen, dass die besten Aufnahmen von "roher" freier Improvisation bloß Pegelanzeiger im Strom sind; die Musik fließt um sie herum. Freie Improvisation bleibt Live-Music. (Es ist schwierig, dies nicht aus dem Blick zu verlieren, wenn Jazz-Zeitschriften ihre Konzertberichterstattung fallen lassen, um CD-Ratgeber zu werden; und wenn Musikologen und Historiker dabei bleiben, die Musik anhand von aufgenommenen Beispielen zu erklären).

Mit Process And Reality untersucht Evan Parker das Potential des Aufnehmens als eines ergänzenden Mediums. Die erste halbe Stunde ist"reine" Solo-Wiedergabe, wenn auch modifiziert durch das Bewusstsein eines bestimmten Zieles, doch danach wird das Studio als Studio eingesetzt, es dient nicht mehr als Konzertpodium. Sein Album Hall of Mirrors (1990), auf dem das Soprano sich großzügig der "elektronischen Intervention" Walter Pratis unterwirft, könnte als Vorbereitung für das vorliegende Album gesehen werden. Für Parker sind beide Aufnahmen "TeiI eines alIgemeinen nochmaligen Abwägens der Arbeit". Er nutzt die Möglichkeiten zur Reflexion, die das Studio erlaubt, aber das tut er mit Maßen. Er überlegt, verweilt aber nicht. Das Album wurde schnell aufgenommen. Der "Biss" des Improvisators ist nicht verlorengegangen - auch nicht die in Coltrane wurzelnde Dichte und der Drang nach Transzendenz. Siehe etwa das für Stück fünfzehn als Motto requirierte Dante-Zitat: "Besingen werd' ich jetzt den zweiten Plan: Hier läutert sich des Menschengeistes Streben, Bis dass er würdig für des Himmels Bahn."

Die Stücke 1-15 bilden eine spontan gegliederte Suite. Mit "Fast Falls" scheint der "zweite Spieler" in Parkers live sound lautstark seine Unabhängigkeit einzufordern; sie wird ihm gewährt durch den Prozess des Overdubbing auf "Parós gemutató" (paarweise Darbietung - ein von Bartok entliehener Ausdruck). Die vielspurigen Sound-Aggregate werden immer komplexer, erst sind zwei, dann vier, dann acht Soprani zu hören. Da Evan mit seiner meisterlichen Beherrschung von Blatt und Klappen eine Neopolyphonie erreicht, die oftmals schon in seinen Solodarbietungen klingt wie mehrere Hornspieler (etwa in dem erstaunlichen "Broken Wing"), werden die Texturen unglaublich dicht, wenn der Prozess sich dem Ende nähert. Blind fliegend (oder eher taub?) - ganz wörtlich auf "Blindflight" - nahm er die acht Spuren dieses Stückes ohne Kopfhörer auf, überspielend ohne mitzuhören, wobei er den Prozess als sein bescheidendes Äquivalent zu Xenakis' Meditationen über Chaos und Wahrscheinlichkeit angesehen haben mag.

Jeder, der noch Zweifel äußert, bis zu welchem Ausmaß Parker sein alternatives Saxophon-Vokabular beherrscht (es umfasst Zirkularatmung plus Flatterzunge, rasende Fingerläufe und optimale Ausnutzung des Obertonbereiches) wird zum Schweigen gebracht durch diese überspielten Spuren hier, die zeigen, wie ganz und gar er mit sich im Einklang sein kann. Der unmögliche Schluss von "Parós gemutató" beispielsweise ist fortgeschrittene Zauberei. Absolut atemberaubend. Solche Momente könnten gewinnbringend von einigen von Parkers gelegentlichen Duo- Partnern studiert werden (und werden es sicherlich auch). Wenn Parker mit Parker spielt, singen die Hörner sehr schön zusammen; und bei aller Komplexität der verwobenen Linien ganz natürlich. War der Prozess so leicht zu realisieren, wie er klingt? "Wenn ich zu lange aufgehört hätte, daran zu denken, hatte es schwieriger werden können. Es gab Zeiten, in denen ich merkte, dass der andere Saxophonist ziemlich ... unerbittlich zu sein schien. Aber ich habe mit solchen Musikern gespielt!"

Eine kurze Bemerkung zu einigen Titeln: "Amanita", an sich schon berauschend, ist nach dem halluzinogenen Pilz benannt, dessen kultischer Gebrauch 6000 Jahre zurückreicht. "Mothon", bei Homer, kann mehreres bedeuten: "Schlachtenlärm", "Toblust", "Kampf zwischen Tieren", "liederlicher Tanz, ein Flötenlied" oder "junger unverschämter Kerl" - man suche sich etwas aus. "Borlung" ist ein "ureingeborener Vorfahr, der in Gestalt eines Regenbogens hoch am Himmel gesehen wird". (Die Titel haben natürlich nichts Programmatisches, und dem Hörer steht es frei, sich vorzustellen, was er mag.) "Fast FalIs" ist dem vorangestelIten Whitehead-Zitat entnommen.

Beim Anhören von "Bubble Chamber" dachte ich an Nancarrow, der sich lange Monate damit abplagte, Walzen für mechanisches Klavier zu lochen. Die Wirkungen, die er erzielte, sind denen nicht unähnlich, die der Improvisator hier aus dünner Luft erzeugen kann. Doch dann wieder zeugt das Stück - wie alle Stücke hier - von einem Vierteljahrhundert ständigen Verfeinerns von Techniken. Um "spontan" zu sein, muss man bereit sein.

Neben Hall of Mirrors und einer anderen wichtigen Studio-Aufnahme, den Elf Bagatellen des Schlippenbach-Trios, zeigt Process And Reality (vor allem in den "Quartett"-Teilen) Parkers neue Bereitschaft, melodisches Material in die Arbeit einzubeziehen. Melodiebröckchen wurden in den Solo-Sax-Sound-Kontinuen von früher nur mit Widerwillen ausgespieen, doch jetzt erlaubt Parker ihnen eine vollere Entfaltung. Außerdem benutzt er mehr vom natürlichen Ton des Horns. Ich bin ganz sicher, dass freie Improvisatoren tatsächlich die besten Melodiespieler abgeben, da all diese Erfahrung mit den anderen Dimensionen der Musik ihren Linien Autorität verleiht. Sowohl das "geradere" Spielen hier als auch der unorthodoxe/idiosynkratische Spielvorteil, den die gesamte Palette bietet, beides wird jedenfalls lebendiger in der Kontrastierung. Der dynamische Bereich ist einfach breiter. "Lapidary" bildet eine amüsante Nachschrift zu der fünfzehnteiligen "Process And Reality"-Sequenz. Dieses Stück ist seit einigen Jahren auf dem Reißbrett, und hier dient es dazu, die modernen Studio-Prozesse zu entzaubern. Man möchte ausgefallene technologische Verfahrensweisen? Wie wär's hiermit? Das Mikrophon befindet sich im Soprano, Parker trommelt rhythmische Figuren auf die Klappen, und das Horn "lauscht" einer Platte von Steve Lacy, auf der er zu einer Platte von Ruby Braff spielt! Wieviel wir von Lacys "Cryptosphere" hören, hängt davon ab, welche Soprano-Klappen in jedem gegebenen Moment offen sind.

Ist Process And Reality eine Blaupause für künftige Parker-Alben oder einfach ein faszinierender Einzelfall? Es sieht aus wie ein großer Neuanfang, doch man kann es auch auffassen als logisches Weitergehen, weg von dem Territorium, wie es kartographiert war auf Saxophone Solos, Monoceros, Six of One und The Snake Decides. Nach Jahren des Jonglierens mit der lllusion der Polyphonie und des Kontrapunktes in seiner Musik, eröffnet das vielspurige Aufnehmen Evan den Zugang zu wirklicher Polyphonie, wirklichem Kontrapunkt. Wenn die Hilfsmittel gegeben sind, warum sie nicht benutzen? Ich bin froh, dass Evan Parker sich hier einmal von der exklusiven Treue der Freien Musik zur sogenannten realen Zeit losgesagt hat ... und bin gespannt darauf, herauszufinden, was er von diesem Projekt für die nächste Runde seiner Solokonzerte mitbringen wird.

Übersetzung: Wulf Teichmann

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