FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 33

Caroline Mähl

 

Die kollektive Phantasie von X-Communication

Ein altersschwacher Fensterladen quietscht im Wind,
eine Katze greint ihren Liebeskummer heraus,
der Deckel eines Mülleimers fällt herunter . . .
Der Berliner Auftritt beginnt mit einem
grobkörnigen Schwarzweiß-Film,
betitelt ,, Hinterhof-Szenen "

Theoretisch gab es X-Communication lange bevor die Gruppe eine Bühne betrat. Als Lawrence ,,Butch" Morris 1987 in New York auf Martin Schütz und Hans Koch traf, konnten alle Beteiligten auf jahrelange Erfahrungen mit verschiedenen Formen der Gruppenimprovisation zurückblicken - ein Umstand, der einiges für ein gemeinsames Projekt versprach. Morris gehört glücklicherweise nicht zu der Sorte Jazzern, die eifersüchtig ihr Terrain bewacht. Im Gegenteil: ,,Der musikalische Austausch über Grenzen hinweg. hat diese Gemeinschaft reicher gemacht und gibt ihr die Kraft, ihrer Aufgabe treu zu bleiben - dem Augenblick Ausdruck zu verleihen." In ersten Brainstorming-Sitzungen visierte man eine 16- bis 18-köpfige Bigband an, und obwohl das Ensemble rasch auf etwas praktikableres Oktett-Format schrumpfte, blieb die Grundstruktur (mit Stimme und Streichern) unverändert. Der ursprüngliche Plan sah Morris' Trio mit J.A. Deane und Wayne Horvitz als Herzstück der Gruppe vor, aber wie das so ist: Kurz vor Probenbeginn - ermöglicht durch einen Auftrag des Jazz Festivals Wllisau - wurde Horvitz krank, und Hans Reichel sprang ein, Daxophon und eine Kollektion weiterer Eigenschöpfungen (wie immer mit mehr Hälsen und Bünden als eigentlich statthaft) im Gepäck. Nach Willisau, einem Auftritt in Köln und einer einjährigen Pause meldeten sich X-Communication mit einem unglaublich packenden Konzert in Nickelsdorf zurück. Die positiven Reaktionen, von Seiten des Publikums ebenso wie aus der schreibenden Zunft, verhalfen der Gruppe 1990 zu einem etwas besser gefüllten Terminkalender. Ihr Auftritt beim letztjährigen Total Music Meeting nimmt den Hauptteil dieses Albums ein.

. . . Stimme, Saxophon und Posaune treten nach und nach in scharfen Konturen hervor, mit lautstarkem Geschnatter Aufmerksamkeit heischend. Ein lang gezogener, wabernder Gitarrenton schiebt sich dazwischen und befördert die lärmende Gesellschaft in luftigere Gefilde - aber wohin?. . .

X-Communication Jahrgang 1990 scheinen einen Grad an gegenseitigem Verständnis erreicht zu haben, der allen Beteiligten mehr Spiel-Raum bietet. Anders ausgedrückt: Die Persönlichkeit muss nicht auf dem Altar einer einheitlichen kollektiven Identität geopfert werden, da die Gruppe stark genug ist, nahezu alle Facetten individueller Kreativität mit zu tragen.

Not Chaos-like, together crushed and bruised,
But, as the world harmoniously confused:
Where order in variety we see,
And where, though all things differ, all agree.
Alexander Pope

.Saxophon und Stimme spielen sich minimalistische, Stakkato-akzentuierte Phrasen zu, halten plötzlich den Atem an, als schwermütige Kornett-Töne aufsteigen . . . eine ,,Ascenseur pour l' Echafaut"-Stimmung, die selbst die hart gesottene Posaune zu beifälligem Brummen veranlasst .

Butch Morris, seit vielen Jahren Wanderer zwischen den Genres, komponiert für Film -, Theater - und Tanzprojekte und hat die Rolle des Dirigenten als Lenker und Katalysator des kreativen Improvisationsprozesses neu definiert. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse fließen wiederum in seine Instrumentalarbeit ein und machen ihn zu einem glänzenden Ensemblespieler, der seine Fähigkeiten immer der Dynamik des Augenblicks unterordnet. Bei diesen Aufnahmen scheint er das sich ständig verändernde Klanggeschehen über lange Strecken aufzusaugen und zu verdichten, seinen Charakter zu studieren, um es dann mit atmosphärischer Kontrapunktierung zu versehen, die den Anderen neue Räume öffnet.

.ein kurzes jazziges Zwischenspiel, dann Schnitt: eine orientalische Szenerie, der Traum einer Geisha über sparsamen Akkorden, die Gitarre als Ersatz-Koto .

Shelley Hirschs an Akrobatik grenzende Stimmbeherrschung ermöglicht es ihr, blitzschnell auf alle Ideen und atmosphärischen Andeutungen ihrer Umgebung zu reagieren und chamäleonartig fast jede nur denkbare Klangfarbe anzunehmen. Dank eines sicheren Stilempfindens und viel Sensibilität bewegt sie sich mit gleicher Mühelosigkeit auch im Bereich verbaler Kommunikation. Die Kombination aus ,,instant composition" und ,,instant poetry" (in Englisch oder spontan erfundenen Scheinsprachen), gelegentliche Ausflüge in die Country-Musik und eine intensive Bühnenpräsenz machen sie zum natürlichen Fixpunkt der Gruppe, eine faszinierende Persönlichkeit, die das Publikum augenblicklich in den Bann zu ziehen vermag.

..die träumende Geisha, ungeduldig selbst im Schlaf, segelt inmitten brodelnder Sturmwolken davon .

Die amerikanische Abteilung wird vervollständigt durch Jason Hwang und J.A. Deane, beide Musiker und Komponisten mit breitem Stilspektrum und, ebenso wie Morris, häufig im Niemandsland zwischen den Genres unterwegs. Deane erzeugt mit elektronischen Mitteln auf und abschwellende Schichten verfremdeter Naturtöne - ein ,,Klangarchitekt", als Spieler schwer einzuordnen, im atemlosen Cartoon-Minimalismus eines John Zorn ebenso zu Hause wie in Jon Hassells weiträumigen Fourth-World-Elegien und regelmäßiger Protagonist in Morris' großen und kleinen Ensembles. Letzteres gilt auch für Jason Hwang, als einer der charakteristischsten Improvisateure von Morris immer wieder herangezogen. Hwang, Amerikaner chinesischer Abstammung, arbeitet vor allem als Filmkomponist (aus seiner Feder stammt unter anderem die Musik für den Dokumentarflm The Emperor's Eye. Art and Power in China) und hat mit einer Reihe von AACM - und "Downtown"-Formationen gespielt

...Bum - di-bum -bum. Di-bum -bum. Hans Reichel, vorübergehend vereinnahmt vom Geist Bo Diddleys, sorgt für Stimmung im Publikum. Lovens haut auf die Pauke (oder etwas ähnliches, Saxophon und Stimme jagen in wildem Zickzack durchs einstürzende Gemäuer .

Dem bei früheren Auftritten noch etwas zurückhaltenden Hans Reichel gelingt es mittIerweile, den trockenen Humor und die stilistische Vielfalt seiner Solo-Arbeit - Kenner des FMP-Katalogs wissen Bescheid - auch bei X-Communication ohne Abstriche einzubringen. Er gehört ohne Zweifel zu den ganz Großen seines Fachs.

Hans Koch konnte sich schon in Cecil Taylors üppig besetztem European Orchestra Gehör verschaffen - wie das unverzichtbare Alms/Tiergarten beweist - und hat bei X-Communication noch an Ausdruckskraft hinzugewonnen. Die Interaktion mit Shelley Hirsch, bei der er sich einer emotionalen Palette bedient, die von flammender Aggression über aufrichtiges Flehen bis zu gurrender Schmeichelei reicht, gehört mit zum Spannendsten, was diese Aufnahmen zu bieten haben.

Allmählich lässt die Energie nach. Man unternimmt noch eine zeitgeraffte Rundreise durch das Grenzland mutierter Ethno-Rhythmen, das Saxophon spuckt ein letztes Mal Gift und Galle aber dann kehrt, zu den Klängen eines etwas schrägen Wiegenlieds, langsam Ruhe ein. Eine Atempause. Lange wird sie nicht dauern...

Martin Schütz hat, zusammen mit Koch, die neue Schweizer Musik entscheidend beeinflusst, nicht zuletzt im Trio Koch/Schütz/Käppeli, einem hellwachen Kammerensemble, das sich der Sprache des Free Jazz ebenso bedient wie der zeitgenössischer Komposition. Bei X-Communication liefert sein fünfsaitiges elektrisches Cello häufig das klangliche Fundament, einen Referenz- und Ausgangspunkt und verschmilzt mit der Posaune zu einer strukturellen Einheit.

Zuletzt - oder, mindestens genauso oft, zuerst - kommt Paul Lovens. Kein Freund vieler Worte, sobald er die Stöcke eingepackt hat, und doch ein Schlagzeuger, der die Kunst des Einwurfs und des Kommentars vollendet beherrscht, fast Konversation betreibt über die gesamte Fläche seiner selected drums and cymbals, die Aussagen seiner Kollegen mal hinterfragt und anzweifelt, mal unterstreicht und einordnet.

Zeit zum Aufbruch. Die nächsten Ziele sind. ein atomisierter Latin-Groove, Zusammengehalten durch lange Kornett- und Vokallinien, ein Folksong, Blues-Reminiszenzen, Hendrix-Gitarre, Jodler, genug Fauna, um einen ganzen Dschungel auszustatten, Seltsames aus der Science-Fiction-Ecke . . . the sound of surprise, oder wie war das noch?

Dieses Album steckt voller Überraschungen - und bietet selbst denen Neues, die das Glück hatten, X-Communications frühere Auftritte '88 und '89 mitzuerleben. Die Musiker haben so etwas wie einen Quantensprung vollzogen, und ihre gemeinsame Sprache glänzt durch Raffinesse, Vielseitigkeit und Witz.

Butch Morris hat einmal gesagt: ,,Für mich gibt es nur zwei Sounds, die es wert sind, gehört zu werden: den der arbeitenden Phantasie, und den der Phantasie, die gearbeitet hat."

Dieses Gefühl geben X-Communication einem immer wieder: Dass hier individuelle Phantasie für kurze Zeit in einem kollektiven Bewusstsein aufgeht, das den Austausch von Ideen mit traumwandlerischer Sicherheit koordiniert.

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