FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 32

Steve Lake

 

DER KOLOSS MIT 50

". . . Mit Kreischen und Quietschen
In fünfzig verschiedenen Durs und Molls"
Robert Browning

Es begab sich aber, dass der Koloss von Wuppertal sein halbes Jahrhundert mit Fanfaren vom Rathaus und ein paar aus dem Stadtsäckel gehüpften Münzen feierte. "Das Projekt", hieß es in einem amtlichen Schreiben der Wuppertaler Dienststelle für Kultur, Erziehung und Sport, "ist mehr als ein Geburtstagsgeschenk für Peter Brötzmann, es ist auch ein kulturelles Geschenk für unsere Stadt." Brötzmann als Held seiner Heimatstadt ist eine rührende Vorstellung, und ich hoffe, daß man ihm beizeiten ein Denkmal setzt. (Eine von Tinguelys sich selbst aufbauenden, selbst zerstörerischen SkuIpturen wäre genau das Richtige.)

Vielleicht liegt in der Ehrengabe ein Quäntchen Staunen darüber, dass Peter nach so vielen Jahren seiner Tätigkeit noch unter uns weilt. Mal abgesehen von dem legendären Lebensstil - der uns schließlich nichts angeht - , aber wer Balls oder Nipples oder Ein halber Hund kann nicht pinkeln gehört hat; oder wer Brötzmann im Konzert gesehen hat, wie sein Kastenkopf hellrot glüht unter dem graublonden Stoppelschnitt und dem Bismarckbart, der wird sich gefragt haben, wie es kommt, dass er nicht schon längst spontan in Flammen aufgegangen ist oder sich mit der gargantuesken Kraft seines Spiels die lnnereien aus dem Leib geblasen hat.

"lch kann mir das nicht anhören. Ich will alles anzünden oder kurz und klein hauen, wenn ich Brötzmann eine Weile zugehört habe", sagte der Gitarrist Attila Zoller einmal. "Das ist Musik, die dich buchstäblich auflädt mit Hass." Wozu ich kurz anmerken möchte, dass eine solche Aussage um so komischer ist, als sie von einem Attila kommt (aus einer langen Tradition, die Dinge in Stücke zu hauen?). Ich kann nur sagen, mich hat Brötzmann in voller Fahrt öfter mit Fröhlichkeit aufgeladen. Allein die Größe des Tons hat noch immer etwas Befreiendes, und oft genug habe ich laut losgelacht, wenn seine Soli die Wände zum Wackeln brachten.

Bei all seiner Sturheit ist dieser gigantische Ton dennoch wirkungsvoll in den unterschiedlichsten Kontexten eingesetzt worden. Ich hänge sehr an einem zerschlissenen Band von 1966, aus Rom, wo ein prä-Machine-Gun-Brötzmann sich brüllend über die Zenrätsel-Strukturen von Carla Bleys früher Musik hermacht. (Nach dieser Tour hat Carla dem Free Jazz abgeschworen und die Beatles zu ihrer Lieblingsgruppe erklärt.) Seitdem hat Peter mit Nam June Paik gearbeitet, mit Mauricio Kagel, Tangerine Dream, Krzysztof Penderecki, B Shops For The Poor, Ginger Baker, Michael Nyman, Anton Fier, Don Cherry und Last Exit wie auch mit der gesamten FMP-Liste der Namen von abstrakten Expressionisten, den Wilden, den Schallwissenschaftlern und Jazzern in festen oder semi-ad hoc-Gruppierungen vom Duo (mit Bennink, Kellers, Harth) bis zur Bigband (Globe Unity, London Jazz Composer's Orchestra, Cecil Taylor European Orchestra).

Eine ziemliche Spannweite. Doch niemand, der bei Verstand ist, würde behaupten, Brötzmann sei der flexibelste Spieler auf dem Planeten. In einigen der eben aufgeführten Kontexte hat er in dem höflichen Versuch, sich entgegenkommend zu zeigen, sein Spiel modifiziert, doch öfter ist er als ein Phänomen präsentiert und ausgestellt worden, mit dem zu rechnen ist; oder um das herum zu improvisieren ist. Eine Art Wirbelwind im Mittelpunkt des Podiums. Cecil Taylor spricht davon, dass er eine Naturgewalt werden möchte - ich glaube, Brötzmann bleibt gar nichts anderes übrig. Er steckt das Mundstück unter seinen Schnauzbart und - holla, presto! - Blitz und Donner. Das einschränkend oder eingeschränkt zu nennen, wäre verfehlt. Man geht nicht zu de Kooning oder zu Pollock, um sich Holzschnitte, Aquarelle oder verzierte Schnupftabakdosen anzuschauen, sondern weil ihre besonderen Intensitäten anderswo nicht zu haben sind. Ebenso ist Brötzmann nicht der Mann für Bebop-Revivals oder Kammerjazz oder Bossa Nova (als Satire könnt's angehen), sondern hält - Wie das Leben so spielt - bestimmte Bereiche besetzt, die mit einem akademischen Diplom nicht zugänglich sind.

In der 1986er Formation von Last Exit hat Brötzmann unwahrscheinlicher Weise einige Soli über alte Jimmy Reed-Melodien gespielt. Ich habe ihn - nicht besonders ernsthaft - gefragt, welches Recht er habe, den Blues zu spielen. Er sagte: "Och, ich fühl mich ganz wohl bei dem Scheiß. Ich bin zwar kein Amerikaner und natürlich auch kein Schwarzer, aber ich denke, ich hab so meine eigene Erfahrung mit dem Blues."

Das ließ mich an die "technischen Eingeschränktheiten" der alten Bluesspieler denken, und wie wenig sie das kümmerte. Es kann nicht viele Musikstücke geben, die mehr "daneben" sind als Sleepy John Estes und Yank Rachell, wenn sie fast ohne jede Rücksicht auf Intonation, Tempo, Changes und aufeinander "Yellow Jam Blues" spielen. Sie bieten eine irrwitzig emotionale Performance - aber von was genau? Nach den Worten von Ry Cooder, der mit ihnen arbeitete, meinten sie, Jazz zu spielen. Daran hängt eine Geschichte. Was wohl meinte Albert Ayler zu spielen?

Die Verwandtschaft zwischen Brötzmanns und Aylers Schrei ist oft genug diskutiert worden. Brötzmann spielte so früh in dieser Art, dass eine Frage des "Einflusses" noch nicht abgehakt ist. Ayler war wohl zuerst damit da, aber nicht viel früher. (Nur ein Vokal trennt Bells von Balls.) Man könnte ebenso sagen, dass Ideen, wenn sie ihre Zeit finden, auch ihre Vorahnen finden. Trotzdem, die Kraft von Aylers Arbeit ist eine fortwährende Inspiration gewesen. Brötzmann spricht selten auf dem Podium. Aber im November 1990, bei einem Konzert mit seinem Sohn Caspar an der Gitarre, widmete er die Musik des Abends Albert, seit zwanzig Jahren tot und überhaupt nicht tot.

Ayler nannte die Musik Louis Armstrongs "ein Freudenfest", und er liebte Sidney Bechet: "Bechet repräsentierte den wahren Geist, die volle Lebenskraft, die heute viele Musiker nicht haben." Hier ist der gemeinsame Boden. Für Brötzmann (und für Mitarbeiter wie Han Bennink und Ginger Baker) ist die Bedeutung des Jazz eingebettet in seine frühesten Ausdrucksformen. Peter beklagt die Tatsache, dass "die Leute heute nichts von Kid Ory oder gar Sidney Bechet wissen. Und die sind wichtig. Zu ihrer Zeit spielten sie einfach und dachten nicht daran, ob sie 'modern' sind oder sonst was."

Musik, die sich abstrampelt, um modern zu sein, schneidet sich oft von ihren eigenen Wurzeln ab und verwelkt. Sidney Bechet aber sagte: "Du kannst die Musik nicht festhalten, du musst schon mit ihr gehen. Musik hat eben diese Stimmung, irgendwie den Drang weiterzugehen, sich fortzubewegen."

Sie verändert sich also, aber in ihrem eigenen Tempo. Brötzmanns jüngste Soloaufnahme ist ein bisschen anders als Fourteen Love Poems und die mit dem Flugzeug vorne drauf. Und sie ist nicht ganz so laut wie Machine Gun oder The Noise of Trouble, aber man erwartet ja auch von niemandem - nicht mal von einem Donnergott - , dass er sich ständig selber anbrüllt. Es gibt besinnliche Passagen, manche mit einem Hauch von Wehmut; es gibt Anklänge an die Meister, und es gibt Überschwenglichkeit, fußstampfende, brustdampfende Überschwenglichkeit. Die Aufnahme führt vor, sofern man's noch nicht wusste, dass Brötzmann Brötzmann ist, ob er nun zwei Hörner zugleich spielt oder ein Saxophon auf sein Mundstück reduziert. Das ist es, was ihn zu einem großen Bläser macht. Er hat eine Stimme.

Hier wieder Bechet: "Alles, was dir widerfährt, gibt deinem Leben ein Gefühl, und du spielst dieses Gefühl. Aber es gibt noch mehr als das. Es gibt auch das Gefühl in der Musik selbst. Und die entscheidende Sache ist, wie diese zwei Gefühle zusammenkommen. Weißt du, wenn du was gelernt hast, kannst du nur noch dazulernen, wie du etwas in dir zu fassen kriegst, was nicht gelernt ist. "

Peter Brötzmann weiß, wie dieses Etwas zu erreichen ist. Es könnte alles sein, was er weiß, aber es ist mehr als genug.

Übersetzung: WuIf Teichmann

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