FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 31

Bert Noglik

 

LOOKING (Berlin Version) CORONA

Die Gleichzeitigkeit des Verschiedenen im Prozess der Wahrnehmung. CORONA - merkwürdiger Minimalismus und doch zugleich Überfülle des Seins. Vorwärtstreibendes und Retardierendes. Sieh, hör genau hin: In der rasenden Bewegung liegt ein starkes Moment der Ruhe. Zeitdruck oder Zeitlosigkeit?

Punkt und Linie zur Fläche. Innerer Klang. Assoziationen zu Kandinsky oder zur Lava der Poesie, zu Legenden aus Guatemala, Erzählungen guinesischer Griots oder den Weisheiten der Hopi. Musik als Vexierbild: äußerste Kraft und zarte Empfindung, angestrengte Konzentration und Gefühl der Entspanntheit. Simultan existierende Perspektiven und Dimensionen. Zustand der Wachheit. Wachsende Einsicht in die Vergeblichkeit des Vergleichens. CORONA-Musik als Zustand und Prozess.

Wieder zu erleben: eine Musik, die in kein Raster passt und zu der keinen Zugang findet, wer nicht bereit ist, die Last der Konditionierung abzuschütteln. Sich der Musik Cecil Taylors zu nähern bedeutet Gewinn an Offenheit, Öffnung, plötzliche Steigerung sinnlicher Wahrnehmung, Neuentdeckung oder Wiederbegegnung mit der Intensität des Seins. Der hohe Anspruch dieser Musik besteht nicht im Rekurs auf Bildung, sondern im Lösen von Blockierungen zwischen Erkennen und Empfinden. Wer sich gleichermaßen gelöst und gesammelt auf solche Anforderung einlässt, wird die Klänge unschwer zugänglich finden.

CORONA. Saiten, Holz, Metalle und Felle. Streichen und Schlagen. Die Mittel, verschiedenen Kulturen entlehnt, verfeinert, individuell umgedeutet, kollektiv zueinander in Bezug gesetzt, verdichtet, potenziert. Das Piano, instrumentale Verkörperung europäischer Musikentwicklung, Ergebnis der Differenzierung und Kategorisierung von Klängen, gerät unter den Händen Cecil Taylors zu einem seine Bestimmung transzendierenden Werkzeug. Anschlag der Tasten und Anriss der Saiten im Sinne eines Rückgriffs auf elementar-expressive musikalische Mitteilungsformen und als eine mit Weitblick unternommene Arbeit an Nuancen, die längst eingeebnet oder so noch nie gehört worden sind.

Das Schlagzeug, genuine Entwicklung der Jazzmusik mit Wurzeln in wahrscheinlich allen Kulturen der Welt, erfährt in der Zusammenstellung der Komponenten und durch die Spielweise Tony Oxleys den Rang eines neu erfundenen oder zumindest persönlich neu definierten Instrumentariums mit einem perkussiven Vokabular zur Gestaltung sublimer Klänge und vibrierender Spannungsbögen.

Mit all dem verwoben die Streicher: Violine, Violoncello und Kontrabass. Auch hier ein Changieren zwischen unterschiedlichen Klangvorstellungen und Kulturdimensionen: gesanglich-melodiöse Wendungen, pointilistisch angeordnete Akzente und auf Flächenwirkung orientierte Sounds. Das hat weder zu tun mit den Violinvirtuosen im sinfonischen Umfeld, noch mit den volkstümlichen Fiddlern, noch mit den Musikbögen in Stammeskulturen. Oder es hat mit all dem etwas zu tun, transformiert in eine Klang- und Empfindungswelt, die im Jazz verwurzelt ist und die dessen idiomatische Verkrustungen erneut aufgebrochen hat. Ein Aufbruch mit der sanften Urgewalt natürlichen Wachstums und dem Wissen um das Wechselspiel von Tradition und Erneuerung.

CORONA ist nicht lediglich die Erweiterung von THE FEEL TRIO, das sind Cecil Taylor, William Parker und Tony Oxley (vgl. LOOKING [Berlin Version] THE FEEL TRIO, FMP CD 25), durch Harald Kimmig und Muneer Abdul Fataah. Durch die Kumulation von Saiteninstrumenten verändern sich klangliche Balance und Modus der simultanen Interaktion, nicht zuletzt auch die psycho-musikalischen Kommunikationsformen. Trotz zunehmender Tendenz zur Überlagerung, Verdichtung und Verschmelzung der verschiedenen Klangebenen, bleibt doch im Unterschied zum Eindruck zu manchen Spielprozessen Cecil Taylors mit Orchester-Formation, ein fortwährendes musikalisches Reagieren der Musiker untereinander, auch für die Zuhörenden noch weitgehend nachvollziehbar.

Cecil Taylors Affinität zu Streichern - man denke nicht nur an die Bassisten, sondern auch an seine Zusammenarbeit mit den Geigern Ramsey Ameen und später mit Leroy Jenkins - ist sicher auch auf die klangrhythmische Vieldeutigkeit von Saiteninstrumenten zurückzuführen. Wenn Muneer Abdul Fataah eigene Gruppen "Rhythm String Band" genannt hat, so verrät das bereits eine Verwandtschaft der Intentionen. Schließlich sei nicht vergessen, dass auch das von Taylor pianistisch wie perkussiv gespielte Tasteninstrument Klavier seinem Wesen nach ein Saiteninstrument ist.

CORONA bedeutet Improvisation auf gleicher, gemeinsamer Stufe. Da alle gleichermaßen Einfluss nehmen, braucht auch keiner einzeln herausgehoben zu werden. Und doch ist es Taylor, der das Maß vorgibt - sei es mit Motiven, die sich zur Verlaufsform ausweiten, oder ganz allgemein mit einer Spielhaltung, die alles zu akzeptieren geneigt ist außer dem Mittelmaß. Mit hartem Anschlag, romantischer Wendung oder direktem Eingriff in das Instrumenteninnere. Entscheidend ist nicht das Material, sondern die Mitteilung oder - wie Taylor sagen würde - die Magie.

Kandinsky schrieb, nicht die Musik, sondern die Malerei betreffend: "Der reine Klang tritt in den Vordergrund. Die Seele kommt zu einer gegenstandslosen Vibration . . . Das Erleben der ,geheimen Seele' der sämtlichen Dinge, die wir mit unbewaffnetem Auge, im Mikroskop oder durch das Fernrohr sehen, nenne ich den ,inneren Blick'. Dieser Blick geht durch die harte Hülle, durch die äußere ,Form' zum Inneren der Dinge hindurch und lässt uns das innere ,Pulsieren' der Dinge mit unseren sämtlichen Sinnen aufnehmen. Und diese Aufnahme wird beim Künstler zum Keim seiner Werke. Unbewusst. So erzittert die ,tote' Materie. Und noch mehr: die inneren ,Stimmen' der einzelnen Dinge klingen nicht isoliert, sondern alle zusammen . . ." Und, um auch hier den Sprung zwischen weit auseinander Liegendem zu wagen: Asturias schrieb, die Mythen der Maya-Indianer aufnehmend: "Nah . . . Fern . . . es war das gleiche . . . Das Leben. Überleben. Das heiße, glühende, auferlegte Leben. Das zurückerstattete Geheimnis. Leben heißt, das Geheimnis des Lebens zurückzuerstatten."

Beim Hören geht alles auf im reinen Klang. Es dämmert das Versagen der Analogien. Die Vergeblichkeit des Vergleichens. Die Unzulänglichkeit der Beschreibungen. Zustand der Wachheit. Looking. Listening.

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