FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 29

H. Lukas Lindenmaier

 

Unter dem Titel "The Different Steve Lacy" waren vier Konzertabende im Juli '85 im Berliner Haus am Waldsee angekündigt. der Sopransaxophonist Steve Lacy mit jeweils einem anderen Duo-Partner, mit dem japanischen Tänzer Shiro Daimon, den europäischen Pianisten Ulrich Gumpert und Urs Voerkel, dem englischen Saxophonisten Evan Parker.

In Anbetracht verschiedener folgend beschriebener Hintergründe (Hg)1 erscheint das Zusammentreffen von Lacy mit Parker als das musikalisch spannungs- und beziehungsreichste.

Hg 01. Ohne lexikalische Biographien herbeizuzitieren ist anzumerken, dass der 1934 in New York NY geborene Steve Lacy der bedeutendste lebende Sopransaxophonist, außerdem einer der wichtigsten Solisten, Komponisten und Integratoren des Free- und New-Jazz ist. Seit 1955 spielt er ausschließlich Sopransaxophon2.

Hg 02. Der um zehn Jahre jüngere Evan Parker stammt aus Bristol (England). Er gilt als eine der wichtigsten Persönlichkeiten in der britischen New-Music-Szene, virtuoser Solist, der eigene instrumental-technische Spezialitäten entwickelt hat. Er spielt Sopran- und Tenorsaxophon, setzte in seinen bisherigen Solo-Produktionen bezeichnenderweise ausschließlich3 das Sopran-lnstrument ein.

Hg 03. Saxophon I. nach seinem Erfinder Adolphe Sax benanntes Blasinstrument. Die konische, mit durch Klappen verschließbaren Tonlöchern versehene Messingröhre mit becherförmigem Schallstück wird über ein Schnabelmundstück mit einfachem Rohrblatt angeblasen. Sechs Bauformen in den Stimmlagen von Sopranino bis Bass sind, neben Andern, allgemein etabliert. Das Sopransaxophon gilt als das anspruchsvollste Instrument der Familie, nicht unproblematisch in der Intonation, lässt es außerordentliche Klangfarbenmodulation zu.

Hg 04. Saxophon II. ursprünglich ein reines Ensembleinstrument, entwickelten sich in der afro-amerikanischen Jazz- und der europäischen Tanz-Musik des 20. Jahrhunderts Saxophon Solisten. Die Geschichte der afro-amerikanischen Jazzmusik ist auch die Geschichte großer Saxophon-Solisten, in der maßgeblich aber nur drei Sopranisten - im frühen Jazz Sidney Bechet, im neueren Jazz Steve Lacy und John Coltrane vertreten sind.

Hg 05. Während in der klassischen Saxophonliteratur Duo-, Trio-, und vor allem Quartettbesetzungen weitverbreitet sind, finden sich diese Ensemblekonstellationen - von den Saxophonsätzen innerhalb der Big-Bands4 abgesehen - im Jazz selten und erst in neueren Stilentwicklungen. Paarungen gleicher Saxophone, hauptsächlich der Tenorlage, treten gelegentlich im Rahmen von Combos auf 5.

Hg 06. Das erste wichtige Saxophonensemble im Stil des New-Jazz/ improvisierter Musik wurde 19746 von Steve Lacy in London geleitet. Neben Steve Lacy und Evan Parker waren die Saxophonisten Steve Potts und Trevor Watts, ferner der Gitarrist Derek Bailey und der Synthesizer-Elektroniker Michel Waisvisz beteiligt. Anlässlich dieses ersten (offiziellen) Zusammentreffens von Lacy und Parker entstand auch ein Sopran-Saxophon-Quartett " Sops "7.

Hg 07. Ebenfalls unter dem Titel "Saxophone Special" fand das 104. Konzert der Reihe "Jazz in der Kammer" 1978 in Berlin statt. Neben Willem Breuker, Peter Brötzmann und John Tchicai spielten wiederum Steve Lacy und Evan Parker mit - auch in diesem Rahmen ein improvisierendes Sopran-Saxophon-Ensemble -, dazu der Bassist Klaus Koch und der Schlagzeuger Günter Sommer.

Hg 08. Neben den (Hg 06/07) genannten saxophonspezifischen Kooperationen trafen sich Lacy und Parker in verschiedensten Projekten, von denen einige zu den wichtigsten in der Geschichte der europäischen Free- und New-Jazz-Musik zu zählen sind. An erster Stelle sind das " Globe Unity Orchestra (Special) " zu nennen, mit Plattenproduktion8 und Tourneen in den Jahren 1975, '76, '79 und '80. Beide Saxophonisten waren maßgeblich an den von Derek Bailey initiierten "Company"-Sessions, 1977 und '79 in London, 1978 in Berlin beteiligt9, 1977 und '78 arbeiteten sie in den Italienischen "Laboratorio Internazionale de Musica Creativa E Improvisata" in Mailand und Rom10. In diesem Zusammenhang besonders erwähnenswert ist ein weiteres Sopran-Saxophon-Quartett (Anthony Braxton, Lol Coxhill, Steve Lacy, Evan Parker) sowie ein Sopran-Saxophon Duo (!) mit Anthony Braxton und Evan Parker im Rahmen der "Company 7". Von keinem der genannten Anlässe ist jedoch ein Sopransaxophon-Duo Steve Lacy's mit Evan Parker bekannt.

Hg 09. Die Duo-Erfahrungen Evan Parker's sind, seiner Herkunft entsprechend, geprägt von der Zusammenarbeit mit Solisten der Europäischen, hauptsächlich der Englischen Free- und New-Jazz-Szene. Deren Musizierformen sind in der Regel nicht motivisch-melodisch oder rhythmisch gebunden, definieren sich vielmehr über hochentwickelte Klangflächen- und Geräuschstrukturen. Auffallend häufig sind Auftritte mit Perkussionisten wie Paul Lytton11 und John Stevens12 und dem einer kompromisslosen Geräuschästhetik verpflichteten Gitarristen Derek Bailey13, während Duos mit Bläsern14, Pianisten und anderen Instrumentalisten15 nur sporadisch dokumentiert sind.

Hg 10. Demgegenüber (Hg 9) arbeitete Steve Lacy vor allem mit Duopartnern, die der afro-amerikanischen Szene, stilistisch verschiedenen Ausprägungen eines progressiven Jazz-ldioms zuzurechen sind, deren Spielweisen oft thematisch, rhythmisch und/oder harmonisch gebunden strukturiert sind. In einer Reihe von Pianisten (Muhal Richard Abrams, Bobby Few, Takashi Kako, Michael Smith16 und Tchanpodei17) nimmt Mal Waldron18 eine hervorragende Stellung ein. Neben Bläser-Duetten mit dem Trompeter Leo Smith, dem Klarinettisten John Carter und dem Bassklarinettisten Walter Zuber-Armstrong19 ist ein Sopran-Saxophon-Duo mit dem langjährigen Quintett- und Sextett-Partner Steve Potts - die "Three Points Suite"20 - zu erwähnen, vermehrte Duo-Auftritte mit Steve Potts, der auch Altsaxophon spielt, sind erst nach 1987 bekannt.

Hg 11. Im ersten Teil des Konzerts vom 18. Juli 1985 tritt Evan Parker als Sopran-Saxophon-Solist auf. Er spielt drei jeweils ungefähr zehnminütige, improvisierte "Stücke" die, in der Stimmung unterschiedlich, musikalisch-technisch ähnlich gearbeitet sind. Innerhalb eines minimalistischen Konzepts verändert er durch Anblas- und Griff-Manipulationen sowie Akzent-und Intervall-Verschiebungen die Klangstruktur von per Zirkularatmung realisierter, endloser Ketten schnellster Arpeggien.

Hg 12. Der zweite Teil desselben Konzertes (Hg 11) wird von Steve Lacy, ebenfalls Solo-Sopransaxophon, gestaltet. Lacy interpretiert kurz zwei Kompositionen -"Eronel" und "Thelonious"- von Thelonious Monk21, anschließend die dreiteilige Suite "Sands"22. In seinen Improvisationen permutiert er assoziativ, in tonalen Schiebungen, Spiegelungen, Umkehrungen, oder Klangveränderungen, erweiternd und kontrastierend das aus den Kompositionen gegebenen Motivmaterial, ohne dessen Rahmen jedoch zu verlassen.

Vordergrund: Vor den dargestellten Hg 01-12 treten im dritten Teil des Konzertes vom 18. Juli 1985 im Haus am Waldsee in Berlin die Sopransaxophonisten Steve Lacy und Evan Parker auf. Die drei improvisierten Duo-Stücke erhalten später die Titel "Full Scale", "Relations" und "Twittering". Im Anschluss an das Konzert - das Publikum hat die Räume bereits verlassen - spielen die zwei Musiker drei weitere, kürzere, ebenfalls improvisierte Duos23.

Beachten Sie im Weiteren die Bedienungsanleitung Ihres CD-Spielers und angeschlossener Wiedergabegeräte.

 

Anmerkungen:

1 das chemische Zeichen für Quecksilber ist absichtlich eingesetzt.

2 aus dem Jahr 1954 sind 3 Titel mit Steve Lacy als Klarinettist bekannt.

3 die einzige bekannte Ausnahme ist das 1982 in Japan eingespielte Tenor-Solo "Live in Hadano".

4 auf die legendären Saxophonabteilungen der Duke-Ellington Orchester und die "Four Brothers" der Woody-Herman-Band sei hier nur beispielsweise hingewiesen.

5 Wardell Gray/Dexter Gordon, Al Cohn/Zoot Sims, John Coltrane/Sonny Rollins u. a.

6 Aktivitäten der später wichtigen und prominenten Saxophon Quartette "The World Saxophone Quartet " und "Rova Saxophone Quartet" - mit letzterem arbeitete sowohl Evan Parker (1980) wie Steve Lacy (1983) - sind erst ab 1977 bekannt.

7 Schallplatte "Saxophone Special" - Emanem 3310.

8 "Evidence" - FMP-0220, "Into The Valley" - FMP-0270,

"Compositions" - Japo-60027.

9 Schallplatten "Company 5" - Incus-28, "Company 6" - Incus-29,

"Company 7" - Incus-30.

10 "Laboratorio della Quercia" - Horro-HDP39-40.

11 "Collective Calls" - Incus-5, "At the Unity Theatre" - Incus-14,

"Ra" - MoersMusic-01016.

12 "The Longest Night" - Ogun-120, Ogun-420.

13 "The London Concerts" - Incus-16 und in "Company"Sessions.

14 U. a. mit dem Posaunisten George Lewis.

"From Saxophone & Trombone" - Incus-35

15 mit dem Kalifornischen Pianisten Greg Goodman "Abracadabra" - Metalanguage-ML 104; mit dem Englischen Bassisten Barry Guy

"Incision" - FMP-SAJ-35.

16 ..Sidelines" - I.A.I.-373847.

17 "The Wasp" - Volcanic- 15010.

18 "Mal Waldron & Steve Lacy 1-3" - hatArt-CD6071, 6072, 6073,

"Sempre Amore" - SoulNote-SN1170, u. a.

19 "Alter Ego" - WorldArtists- WA 1004, "Call Notes" WorldArtists- WA 1005.

20 "Points" - LeChantDuMonde-LDX74680.

21 Steve Lacy arbeitete 1960 mehrere Monate mit dem Pianisten- Komponisten Thelonious Monk. 1963 leitete er zusammen mit dem Posaunisten Roswell Rudd eine Gruppe, die ausschließlich Monk-Kompositionen interpretierte. Seit Ende der 70er Jahre spielt er in Solo-Auftritten regelmäßig mehr oder weniger ausgedehnte Folgen von Monk-Stücken.

22 Komposition von Steve Lacy, mit Texten von Samuel Beckett, die Teile tragen die Titel "Stand", "Jump" und "Fall", Originalfassung für Sextett mit Tanzperformance, unveröffentlicht.

23 Die Aufnahme der drei Konzert-Titel erschien ursprünglich als Schallplatte "Chirps" - FMP-SAJ-53, die hier vorliegende CD beinhaltet ebenfalls den kompletten Konzertmitschnitt, zusätzlich die drei nach Konzert Ende aufgenommenen Improvisationen.

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