FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 22

Peter Rüedi

 

Dass dies ein Konzertmitschnitt ist, ein unmanipulierter Live-Ablauf, das integrale Ereignis in einem bestimmten Augenblick und Bewusstseinszustand der zwei Partner dieser Platte, ein Dokument der hier und jetzt, das heißt: dann und damals fliegenden spontanen Erfindung das möchte einer kaum glauben, der diese Musik zum ersten Mal hört.

Werner Lüdi, 1936 in Poschiavo in der Südschweiz geboren, und Peter Brötzmann, Jahrgang 1941, aus Remscheid, sind beide Vater dessen, was in den sechziger Jahren als Ausbruch aus den Sackgassen der Thema-Solo-Thema-Routine die letzte wirkliche Rebellion einer Avantgarde war. Einer Avantgarde, die diesen Namen wirklich verdiente und auch ihrem Selbstverständnis nach eine war. Dass beide Saxophonisten, der eine auf dem Alto, der andere auf dem Tenor, Autodidakten waren, ist kein Zufall. Das Raffinement, die extreme Ausweitung aller Ausdrucksmittel auf ihren Hörnern (bis zur Perkussion der Klappengeräusche) ist das Gegenteil von akademischer Artistik, obwohl es artistisch auch ist. Der Begriff ,,Free Jazz", der der frei improvisierten Musik damals flugs angeheftet wurde - auf dass das unverträglich Unvorhersehbare insgesamt einen Namen habe, mit dem es zu bannen sei - ,,Free Jazz" bedeutete für die am Anfang weit herum verstörten Fans vor allem Anarchie und Vitalismus, Publikumsbeschimpfung, ,,die Sau rauslassen", jedenfalls, je nach Standpunkt, eine entweder ,,tierisch gute" oder eine saumäßige Regression von der Kultur zum Urlaut. ,,lch erinnere mich an einen Abend in Düsseldorf", sagt Brötzmann in Bert Nogliks ,,Jazz Werkstatt International", ,,an dem zum Schluss nur noch der Schweizer Altsaxophonist Werner Lüdi und ich auf der Bühne standen. Alle andern hatte das Entsetzen ergriffen. Bei Festivals und Konzerten gab es zu unseren Auftritten in dieser Zeit nicht selten Gelächter - sowohl beim Publikum als auch bei den Kollegen, übrigens auch bei Kollegen, die später gerne mit uns zusammenspielten".

Heute denken wir mit Rührung an die Zeit, in der die Free Music als eine veritable Revolte noch tatsächlich Skandale provozierte. Mit Rührung, und mit Respekt. Denn natürlich war sie von Anfang an etwas anderes und mehr als die lautstarke Umdeklaration des Dilettantismus zur Kunst (wie viele meinten, und für diese Meinung gelegentlich auch Beispiele fanden). Die große Wende setzte bald genug ein. Ihr Resultat ist bekannt: die heute triumphierende allgemeine postmoderne Beliebigkeit, das Dégagement und die Verlogenheit, mit der die Ratlosigkeit unter dem Stichwort ,,neuer Traditionalismus" als Ehrfurcht vor dem Ahnenerbe (bis zurück zu den Baumwollpflückern) ausgegeben wird. Der Geist mag gehen, wo er will - Konjunktur hat er derzeit nicht. Über die Väter der freien Musik mokieren sich die Yuppies, die sich in weltmusikalischen Wohlklang kuscheln wie in Kaschmir von Armani. Auch ,,Altachtundsechziger" ist ja längst ein Schimpfwort.

Da kommt mir die Musik dieses Duos vor wie die Auferstehung des Prinzips Hoffnung. Sie ist sozusagen der schlagendste Beweis für die Idiotie jenes Jugendlichkeitswahns, nach welchem ,,keinem über dreißig" zu trauen sei. Brötzmann und Lüdi entwickeln in ihrem Dialog eine Kunst, die zu tun hat mit Vertrautheit und Erfahrung (und damit meine ich nicht nur Selbsterfahrung). Jeder hat sich auf seine Weise die Leidenschaft bewahrt, welche den Aufbruch von damals hauptsächlich ausmachte (Lüdi durch einen vierzehnjährigen Rückzug, Brötzmann durch aktiven Widerstand). Dazu aber zeigt diese Aufnahme bei großer Intensität ein erstaunliches Formbewusstsein. Form, die nicht kalkuliert ist oder gar übernommen, nicht einmal aus dem eigenen Fundus (ein Schriftsteller, heißt es irgendwo bei Chandler, ist dann am Ende, wenn er bei sich selbst abzuschreiben beginnt). Spontan entwickelte Form. Vom manischen Expressionsrausch, in dem sich im Free Jazz vergangener Tage mancher ausgetobt hatte ,,jusqu'au bout du souffle", ist dieser Ablauf weit entfernt. Er ist eine Folge von relativ kleinen, umrissenen Formen, in ihren Proportionen so austariert, dass es schwer fällt zu glauben, hier sei nicht entweder das meiste komponiert oder aber im Nachhinein redaktionell zurechtgeschnitten.

Diese Musik transportiert Zorn, Widerstand, Insistenz. Sie enthält jede Menge von Zweikämpfen und Balgereien und Selbstbehauptungen. Das auch. Brötzmann/ Lüdi verraten ihre Herkunft nicht. Aber sie ist, diese Musik, immer wieder auch sehr behutsam, ja zärtlich. Sie denkt in Kontrasten. Neben dem Gravitätischen und der ungebärdigen Expression (beide sind sie Saxophonisten mit viel ,,Körper", beide lieben sie auch die tiefen Lagen, manchmal ist Lüdis Alt schwer vom Tenor zu unterscheiden) unterhalten sie sich am andern Ende ihrer Welt in serenstem Pianissimo, sozusagen mit Engelszungen.

Diese Musik ist in hohen Maße ,,Raummusik". Die beiden hauen sich nicht ihre Obsessionen um die Ohren, sie hören einander zu, auch beim gemeinsamen Spielen, auch wenn sie scheinbar nur eigenbrötlerisch in sich selbst hineingrübeln. So ist dies eine brüderliche Veranstaltung. Nur Selbstwertproblematiker fürchten, durch heftige Äußerungen des anderen in Frage gestellt zu werden. Das nun aber sind Werner Lüdi und Peter Brötzmann zuletzt.

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