FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 15

Alex Varty

 

Die Reiche der Töne durchstreifend, die mannigfaltigen Ebenen der Musikgeschichte durchquerend, die musikalischen Gebiete aller Kontinente durchziehend, bahnen Tom Cora und Hans Reichel sich ihre eigenen Wege, zeitweilig Seite an Seite auf synchronistischen Nebenwegen der Melodie reitend, zeitweilig einzeln ausscherend, um die verwüsteten Ländereien des Lärms und mutwilligen Obskurantismus zu durchstöbern, stets offenen Ohrs für Überraschung und, manchmal, Schönheit.

Wer diese Musik nicht hören will- oder kann -, wird tun, was er immer getan hat, wenn er durch Invention herausgefordert wurde: sie unter den Teppich kehren, sie als Lärm bezeichnen, als Müll; er wird negieren, dass das Musik ist oder dass es so etwas überhaupt gibt. Aber müssen wir in einer Zeit, in der Fernsehen und Radio, Kino, Videospiele, Poeten und sogar Romanciers uns eine Vision der Realität als eines stets sich wandelnden Kontinuums vermitteln, das in Mikroblitzmeldungen serviert wird - müssen wir in einer solchen Zeit noch immer festhalten an einer Musik, die in drei-, vier-, fünfminütigen Moduln festgelegter Rhythmen und Tonarten daherkommt?

Cora und Reichel sagen ausdrücklich nein, indem sie alle Möglichkeiten bejahen, die vier Hände, vier Füße, erweiterte Technik, Elektronik und Zugang zu globaler Kultur eröffnen. Das eingestimmte Ohr kann die ganze Welt ihrer schallenden Streifzüge hören: Hochchinesische Prozessionsmusik geht über in ein Delta - Blues, in einen Zwölftonlauf, in das Brummen übergeschnappter elektrischer Schaltkreise, in die pastorale Ruhe eines Froschkonzerts rings um einen weidenbestandenen Teich und nichts davon wird als direkte Anspielung auf diese Dinge vorbuchstabiert.

Tier? Pflanze? Mineral? Schwer zu sagen, wenn Hände auf Bogen und Griffbretter treffen, die ihrerseits auf Stahlsaiten und Drahte treffen, deren sämtliche Moleküle sich auflosen im Destillierkolben des Klanges, nur um verwandelt in Gestalt dessen zu erscheinen, was das aktive Ohr jeweils imaginieren möchte.

Wenn Mutation ein integraler Bestandteil der Evolution ist, dann sind Cora und Reichel mutagene Agenten, die daran arbeiten, die Evolution des Klanges zu fördern. Indem er die Form seines Instruments veränderte, hat Reichel eine Reihe skulpturaler Gitarren geschaffen, deren Möglichkeiten das Grundvokabular um eine neue Dimension von Unterwasser und Ätherklängen bereichern. Neben Frith und Frisell gehört er zu der Handvoll zeitgenössischer Gitarristen, die den von Bailey und Hendrix in den Sechzigern gelieferten revolutionären Beiträgen etwas hinzuzufügen vermochten. In ähnlicher Weise ist Coras Cello kein sakraler Gegenstand, dem man sich nur in geziehmend ehrerbietiger förmlicher Kleidung nähern darf, sondern es ist, ganz wörtlich, ein klingender Körper für allerlei ungewöhnliche Ideen. Seine Verwendung cello-resonierender Vorrichtungen ermöglicht ihm, alle möglichen kleinen Klänge, die allein unbedeutend erscheinen könnten, zu verstärken, so dass sie Bedeutung und Gewicht bekommen, wenn sie durch dieses Behältnis der Tradition expandieren. Und Reichels Dachsophon, ein täuschend einfaches doch teuflisch ingeniöses Gefüge aus kleinen Skulpturen, gibt sich zu noch wundersameren Transfigurationen her, wenn Teilchen von gestrichenem oder sonst wie manipuliertem Holz die Stimmen einer Operndiva, einer klagenden Klarinette oder einer Schar Wasservögel von sich geben.

Wer diesen Aufnahmen lauscht, kann sich alles mögliche dabei vorstellen, doch das am leichtesten Vorstellbare ist auch das einzige, was falsch ist. Unsere Ohren werden nicht getäuscht: Alle diese Klange existieren in der realen Zeit und sind in ihr erzeugt worden. Nur die einfachsten elektronischen Hilfsmittel wurden benutzt: Es gibt hier keine kostspieligen Sampler, keine 48spurigen Fingerfertigkeiten. Mit den einfachsten Zutaten, mit Klang, Zeit und Imagination haben Tom Cora und Hans Reichel eine Welt geschaffen, die keiner anderen gleicht, und nun ist es an Ihnen, frei darin umherzuwandern.

Übersetzung: Wulf Teichmann

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