FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 12

Steve Lake

 

EIN WUNDERTÄTER IM AUSLAND

Voriges Jahr brachte der Briefträger unter anderen schönen Dingen eine Platte mit dem Titel ,,New Music for Bowed Piano". Ein Coverfoto zeigte 25 Mitglieder des Colorado College New Music Ensemble, wie ein Haufen Rugbyspieler sich zusammendrängend und damit beschäftigt, das Innere eines Konzertflügels rigoros zu attackieren, mit winzigen Rosshaarbogen, jeder so groß wie eine Zahnbürste. Die Absicht dabei war, das Obertonpotential des Flügels zu maximieren. Der daraus sich ergebende Klang war nicht ohne Reiz, doch das Projekt schien (mir) die Verzweiflung der ,,strikten" Avantgarde zu symbolisieren. Wieder einmal - wie so oft seit Cage - war ein Komponist von einer Theorie ausgegangen, und was dabei herauskam, die Endsumme der Musik, war ein Effekt: der Schatten war für die Sache selbst genommen worden.

Um musikalisch angewandte unorthodoxe Techniken zu hören, muss man zu den Improvisatoren gehen, den Männern und Frauen, die das Rohmaterial ihres Klanges kennen wie der Bildhauer seinen Ton, und die fähig sind, diesen Materialien Leben einzuhauchen. Auf ,,Mujician III" entlockt Keith Tippett den Saiten des Flügels immer wieder neue Klange und Klanggewebe, und stets scheinen sie eher zum natürlich ablaufenden Fluss der Musik zu gehören als deren ,Gegenstand' zu sein. Die eigentümlichen Techniken, die angewandt werden, sind voll in das Material integriert. Möglichst viel aus den Obertönen des Flügels zu machen, gehört einfach zu Tippetts Arbeit, und wenn der Haufen vom Colorado College und ähnliche Leute zuhörten, würden sie eine Menge lernen.

Nachdem dies gesagt ist, ist es vielleicht falsch, darauf einzugehen, wie die Klänge erzeugt werden. Der Zuhörer ist am besten beraten, wenn er sich einfach in sie versenkt. Aber wer Tippett noch nie im Konzert gesehen hat, muss neugierig werden. Diese Klangfarben, diese Texturen, die eine Affinität mit Conlon Nancarrows elektrischen Klavieren oder Terry Rileys spiegelbildlichen Bandschleifen zu haben scheinen ... wo kommen sie her? Elektronik ist nicht im Spiel. Tippett legt lediglich drei Holzstücke - eins aus Teak, eins aus Balsa, eins aus Mahagoni - und einen Satz Kinderpanflöten aus Plastik auf die Saitenharfe des Flügels. Das übrige ist eine Sache verschieden nachdrücklicher dynamischer Attacken auf die Tastatur, großzügiger Gebrauch des Pedals und der poetische Einsatz einer tadellosen Technik.

Tippett spielt kein ,,präpariertes" Klavier, wie er ausdrücklich betont. John Cages Modifikationen des Instruments mit Muttern und Schraubenbolzen sind vom Standpunkt eines auftretenden Pianisten ziemlich endgültig. Ist ein Flügel erst einmal präpariert, lässt er sich auf der Bühne nicht einfach entpräparieren. Aber Tippetts bescheidene Holzklötze rutschen frei herum, können hin und her geschoben werden, während des Spiels, und können beliebig hochgenommen und wieder hingelegt werden. Und das Publikum kann sehen, was passiert; was die Klänge allerdings nicht weniger erstaunlich macht. ,,Mujician" bleibt der treffende Ausdruck.

In der Welt der Improvisation ist Keith Tippett ein einzigartiger Spieler. Temperamentsmäßig gehört er zu den ,,freien" Improvisatoren und hat erfolgreich mit den meisten der besten von ihnen gespielt. Doch kein anderer freier Pianist klingt wie er. Er ist ein Iyrischer Spieler (obwohl sein Lyrizismus oft durch stahlharte Rhythmen ausgeglichen wird), und sein Instinkt fur Melodie hat sich durch den Ruf des Genres nach Abstraktion nie einengen lassen. Er kann in den Mahlstrom segeln und immer noch wie er selber klingen. Er ist einer der ganz wenigen frei improvisierenden Pianisten, die nicht wie ein Echo von Cecil Taylor klingen. Keith Tippett bewundert Taylor zu sehr, um sich Kopieren durchgehen zu lassen, und ist sowieso aus anderer Richtung zur Musik gekommen.

Wenn Taylor sich sein Instrument als 88 gestimmte Trommeln denkt, dann betrachtet Tippett das seine als ein Orchester. In seinen Akkorden und in dem oft gespenstisch schönen Netzwerk und erregten Wechselspiel der Harmonien scheinen Streicher und Bläser mitzuklingen.

Keith Tippetts Diskographie umfasst ein weites Feld: von dem heute legendären 50-Mann-Big-band-Hundertfüßler bis zu Duos mit Louis Moholo und Stan Tracey, zugleich aber - und das trifft auf ihn vielleicht mehr zu als auf jeden anderen britischen Improvisator - ist auch alles aus einem Stück. Man könnte sie in längerer Perspektive sehen und zurückgehen bis in seine frühen Tage als Chorknabe und dann als Kirchenorganist und eine Linie ziehen durch seine Gruppe Ovary Lodge und durch diese herrliche Bigband The Ark und ihr bis heute folgen, um zu dem Schluss zu gelangen, dass seine Entwicklung vollkommen logisch verlief. Man könnte sagen, dass er stets eine Musik religiöser Intensität spielte. Er hat seine Herkunft sicherlich begriffen.

,,Mujician III" vervollständigt eine Trilogie von Klavierwerken für FMP und ist, wie ich finde, die ,,beste" seiner Solo-Aufnahmen, obwohl keine davon weniger als erstklassig war. Tippett plant jetzt, das Soloformat eine Weile ruhen zu lassen, wenigstens was Aufnahmen betrifft; was verständlich ist, denn ,,III" ist eine Landmark-Aufnahme, ein Tour-de-force-Werk, eingefangen in ein Album, das Bestand haben wird.

Keith Tippett sieht aber mit Bescheidenheit auf diese Arbeit. Als ich ihn um eine Erklärung für die Großartigkeit dieses wegweisenden Auftritts bat, betonte er die magischen Eigenschaften des Weizenbiers in Berlin (nun, wir tranken es in derselben Kneipe, und ich tippe noch immer mit zwei Fingern...).

Die wahre Erklärung liegt natürlich in seiner Disziplin, Hingabe und Einbildungskraft; und in der schöpferischen Energie, die er trotz der entmutigenden Atmosphäre im derzeitigen Britannien, wo der Künstler stets ein Mensch unten auf dem Totempfahl ist, aufrechterhalten hat.

Während ich dies schreibe, ist Tippett begeistert mit einer neuen Band unterwegs, die sich ebenfalls Mujician nennt. Ich weil3, dass noch viel großartige Musik von ihm kommen wird. Für diesmal ist ,,Mujician III" aber mehr als genug.

Übersetzung: Wulf Teichmann

zurück / back