FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 10

Bert Noglik

 

Es gibt Klänge die in sich so stimmig sind, so behutsam in den Raum gesetzt und so vielschichtig miteinander verwoben, dass fast so etwas wie Angst aufkommt, ihnen mit Sprache weh zu tun. Dieses seltene Gefühl beschleicht mich beim Hören der Solomusik von Hans Reichel. Ich sehe mich in individuelle Klanglandschaften versetzt, in eine Klangwelt von einer ganz eigenen Tiefendimension. Die von Hans Reichel vorgetragenen Stimmungen und Geschichten sind nicht der Art, dass man sie nacherzählen könnte. Das Phantastische und das Wirkliche liegen dicht nebeneinander. Was passiert ist still und doch auch sensationell, bescheiden und zugleich unerhört. Es kommt auf die Feinheiten an: Hans Reichels sensibler Umgang mit den Klängen ist etwas völlig anderes als Gefälligkeit. Was vertraut anmutet, kann im nächsten Moment seltsam oder verwunderlich erscheinen. Das aber, was in dieser Musik funkelt, ist echt und hat mit den massenhaft verbreiteten Syntheseproduktionen fragwürdig schöner Klänge nicht das mindeste gemein. Es ist fast so, als hätte man vom Wort Schönheit die verklärenden und betrügerischen Nebenbedeutungen abgewaschen. Kunstgewerblicher Ästhetizismus liegt Hans Reichel ebenso fern wie das Ausreizen einer Schockästhetik. Seine Suche nach unverbrauchten Klängen folgt auch nicht der Innovationssucht, sondern- schon wieder ein Wort, das man von sentimentalen Nebenbedeutungen reinigen muss dem Gefühl dafür, was ihm musikalisch gemäß ist. Dies herauszufinden bedurfte beharrlicher Arbeit beim Bau und bei der spielerischen Erkundung der Instrumente wie auch feinsinnigen Umgangs mit dem musikalischen Material.

Die Auffassung, wie eine Gitarre auszusehen und zu klingen habe, sei etwas normativ Festgeschriebenes, hat Hans Reichel nie akzeptiert. Seit Anfang der siebziger Jahre beschäftigt er sich damit, Gitarren umzubauen und neue Gitarrentypen anzufertigen. Hans Reichel ist ein Gitarrenerfinder und ein Klangversessener, ein Holznarr und ein musikalischer Tüftler. Sein Werk liefert den Gegenbeweis zu der These, sonderbare Klänge zu "erfinden" sei eine Domäne der Synthesizerspezialisten und Computerfreaks. Tatsächlich ist der Bastler Hans Reichel vor allem Musiker: er hat die von der Gitarre bestehenden VorsteIlungen nicht nur um neue Konstruktionen und SpieItechniken, sondern vor allem um neue Klangdimensionen bereichert.

"Coco Bolo Nights" kommen ohne elektronische Tricks, auch ohne jegliche Overdubs aus. Perkussives, Mehrstimmiges, Orchestrales, Bordunklänge und pfeifende Flageolettöne setzen ebenso in Erstauen wie Hans ReicheIs Neigung, dem einzeInen Klang Beachtung zu schenken. Was mitunter vorschneIl als Hang zur Meditation interpretiert wurde, ist nichts anderes als die selten gewordene Gabe, den Klängen nachzuhören und die Töne sich im Raum entfalten zu lassen. Die Assoziationen beim Hören der nach Art und AnIage unterschiedlichen Stücke (die Titel) 1 bis 5 und 13 bis 17 korrespondieren übrigens spiegelverkehrt miteinander) mögen individuell unterschiedlich ausfallen. Es gibt Anklänge an Metallophone in balinesischen Orchestern, an das Spiel von Glocken oder anderen Instrumenten wie Sitar, Koto, Steel Drums, Cembalo, Spinett, Spielorgel, ja selbst an elektronisch erzeugte Sounds. Doch die Musik von Hans Reichel lässt sich nicht auf fremde Quellen zurückführen, und die mit seinen Instrumenten entfalteten Klänge verweisen nicht auf anderes, sondern letztlich auf ihre Besonderheit. Auch das, was an Einflüsse außereuropäischer Musikkulturen erinnern könnte, entspringt nicht etwa einer bewussten Beschäftigung mit anderen Klangkonzeptionen, sondern Reichels eigenem Musikempfinden. Den Sinnen zu folgen sollte nicht mit Naivität verwechselt werden. Die Konsequenz, mit der Hans Reichel seine Musik entwickelt hat, lässt ihn eine Sonderstellung oder Außenseiterrolle wider eigenen Willen einnehmen. Gewiss spielt die Freiheit zur Improvisation in Reichels Spiel eine wichtige Rolle. Einer vorgezeichneten Richtung oder gar einem Stilbegriff zuordnen lässt sich seine Musik nicht. So bleibt nur noch eine, die beste Variante übrig: die Musik nach dem Namen ihres Erfinders und Spielers zu nennen.

Der Wuppertaler Hans Reichel ist mit seiner Musik viel in der Welt herumgekommen - mehrfach und auch für längere Zeit nach Asien, kreuz und quer durch die USA und Kanada. Neben den Solokonzerten (seit 1972) hat Hans Reichel wiederholt musikalische Dialoge gesucht und hin und wieder auch in Gruppen mitgewirkt. Folgendes hat sich in Japan zugetragen: Hans Reichel entdeckte in einem Warenhaus ein Stück Holz, das ihn faszinierte. Holz mit einer wilden Maserung und in Farbtönungen von orange über rot und braun bis hin zu schwarz. Eine Astformation hatte gar die Form eines Dachskopfes (Hans Reichel) ist der Erfinder des "Dachsophons", eines eigentümlichen Musikinstrumentes). Zu einem hohen Preis erwarb Hans Reichel) dieses rare Stück Holz, das er mit nach Europa brachte. Holz mit dem Namen "Coco Bolo", tropisches Holz, hierzulande bekannt als Rio Palisander. Holz aus den Regenwäldern Brasiliens, die abgeholzt, mithin nicht mehr sein werden. Eine der Gitarren, die auf dieser CD zu hören sind, hat Hans Reichel) aus besagtem Stück Coco Bolo gefertigt.

Es gibt so viele Möglichkeiten, Saiten über ein Holz zu spannen, das wir Gitarre nennen. Auf dem Wege, etwas zu definieren, hat man es oftmals schon verloren. "Was aber die Schönheit sei", hat einst Albrecht Dürer gesagt, "das weiß ich nit". Worte sollen das Spiel nicht verstellen. Die Musik von Hans Reichel. Klänge, die in der Nacht leuchten.

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