FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

OWN 90010

Bert Noglik

 

Zwei Musiker, die sich glänzend ergänzen, weil beide in den Grenz- und Übergangsbereichen zwischen den fest definierten Genres zu Hause sind, finden im Dialog zündenden musikalischen Gesprächsstoff. Gleichermaßen in Komposition und Improvisation zu Hause, wissen sie zuvor Gesetzes und im aktuellen Spielprozess Erfundenes so miteinander zu verflechten, dass sich im Fluss der Übergänge alles zur Form fügt. Zugleich wird den Tendenzen zu Verfestigung entgegengewirkt, die Musik innerhalb der gewählten Kommunikationsmodelle geöffnet, von den Bindungen an das Fixierte befreit und ins freie Feld des Improvisierens versetzt.

Ihre Musiksprache verrät, dass Friedemann Graef und Achim Goettert mit dem Jazz verbunden sind, zumindest vom Jazz herkommen, ohne sich auf dessen bekannte Idiome festlegen zu lassen. Eben deshalb vermögen sie, neue Klangbereiche zu erschließen, sich selbst und die Zuhörenden zu überraschen. Was sich in den Biographien der beiden Musiker spiegelt, offenbart auch die Klangspur ihres Duos: Beschäftigung mit Neuer Musik und europäischer Tradition, mit ethnischen Überlieferungen und zeitgenössischen Klängen im weiten Spektrum vom Jazz bis zur E.-Musik-Avantgarde. Friedemann Graef und Achim Goettert versetzen all diese Erfahrungen in einem lebendigen, oft lustvollen Prozess des Musizierens. Vor dem Background des Jazz ergeben sich so klangliche Erweiterungen, während - von der Neuen Musik aus betrachtet - avanciertes Material aus dem strengen Bedingungsgefüge des Tonsatzes befreit und in einem undogmatischen, spielerischen Kontext versetzt wird.

Kaum ein Instrument, kaum eine Instrumentenfamilie erschien geeigneter für ein solches Unterfangen, als das Saxophon. Die Dialogsituation ermöglicht kammermusikalische Transparenz, das Klangpotential des Instrumentes eröffnet zugleich ein weites Assoziationsfeld: von Ethnosounds und der im Jazz ausgeformten Expressivität bis zu unverwechselbarer Individualität. Friedemann Graef und Achim Goettert sind sich so weit ähnlich, dass sie intuitiv immer wieder einen gemeinsamen Nenner finden; und sie sind in ihrer Musizierhaltung doch unterschiedlich genug, um sich gegenseitig zu stets neuen Einfällen herauszufordern.

Spiel mit der Saxophonfamilie bedeutet zugleich Spiel mit den schier unendlichen Kombinationsmöglichkeiten. Im Spektrum vom Sopran- bis zum Basssaxophon nutzt das Duo eine Vielzahl spannungsreicher Klangkonstellationen. Doch was all das von einem praktischen Kurs in Instrumentenkunde unterscheidet, ist die lebendige, den jeweiligen Kompositionen bzw. dem jeweiligen Improvisationsverlauf entsprechende Aneignung des zur Verfügung stehenden Ausdruckspotentials vom "puren" Ton bis zu Mehrklängen, Überblastechniken, Zirkularatmung und Kombinationstönen. Souverän nutzen die beiden Musiker die vielfältigen Möglichkeiten des Dialogs: Frage und Antwort, zweistimmiges Spiel, Unisono, sich frei entfaltende Linien bei gleichzeitigen Ostinati, Kanontechnik, minimalistische Verschachtelungen, Simulation von Bass und Schlagzeugfunktionen, punktuelle, gleichmäßige oder synkopierte, Swing oder Puls erzeugende Akzente bei simultaner Melodiestimme…Ein ganzer Katalog tut sich auf, der in Achim Goetterts "Zengö 19 Suite" durch alle Tonarten geführt wird. Unverkennbar von afroamerikanischen Quellen inspiriert, spiegelt sich doch zugleich auch in dieser Suite die europäische Mentalität. Kein Zufall vielleicht, dass die "Zengö 19 Suite" von Achim Goettert während eines Aufenthaltes im ungarischen Pecsvarad konzipiert wurde. Der Blues bindet sich mit Bartók (nicht mit dessen Musiksprache, sondern mit dessen Haltung, sich ethnisches Material anzueignen), Jazz Erfahrung verknüpft sich mit dem Wissen um die zeitgenössische Musik, das "wohltemperierte Bluessaxophon" mit dem "Mikrokosmos der Improvisation". Ein Jahr nach Entstehen der "Zengö 19 Suite", Mitte 1992, begann die Zusammenarbeit von Achim Goettert und Friedemann Graef. Beide waren auch in erweiterten Besetzungen, u.a. mit dem Organisten Helmut Walz, dem Posaunisten Johannes Bauer und dem Schlagzeuger Günter Sommer zu hören, haben jedoch im Saxophonduo eine kontinuierliche und besonders enge Kooperationsbeziehung entwickelt. Bei den Titeln von Friedemann Graefs "Sweet Soil Suite" glaube ich gleichermaßen Jazzfeeling, Improvisationserfahrung und Nähe zur Neuen Musik wie auch zur europäischen Klassik und zur Alten Musik herauszuhören. Zu den Stärken des Duos zählt, all das in einen organischen Zusammenhang zu versetzen und sich spielerisch zu einer in zeitgenössischer Musik selten gewordenen Tugend zu bekennen: zur Melodiebildung. Hinzu kommt jene aus dem Jazz erwachsene physische Bewegungsenergie, die auch dann noch spürbar bleibt, wenn sie sich kaum mehr definierbar erweist. Mit anderen Worten: dieses Saxophonduo swingt, ohne sich fingerschnipsend anzubiedern. Und manchmal klingen die beiden wie ein einziges Instrument, gelegentlich wie ein ganzes Orchester. Dabei sind sie - konzentriert oder viel dimensional - alles in einem und gemeinsam: Komponisten, Improvisatoren, Interpreten, Klangschöpfer.

Friedemann Graef, geboren 1949, lebt in Berlin und arbeitet seit 1975 hauptberuflich als Saxophonist im Bereich der improvisierten Musik. Er spielte u.a. mit Alexander von Schlippenbach, Peter Kowald, Joe Viera, Ernst-Ludwig Petrowsky, John Tchicai, Karl Berger, Abdullah Ibrahim, Paolo Mura, Trilok Gurtu, Kamalesh Maitra, Reinhard Flatischler, Pierre Dorge, Harry Becket,, Albrecht Riermeier, Ray Anderson, Nippy Noya und Heiner Goebbels. Neben seiner Mitwirkung in einem Ensemble für Alte Musik, als Solist in renommierten Orchestern und im Berliner Saxophon Quartett, dem er seit 1983 angehört, profilierte sich Friedemann Graef, als Komponist und Interpret mehrfach ausgezeichnet, auch auf dem Gebiet der Neuen Musik. Sein Schaffen umfasst Chor- und Orchesterwerke, Kompositionen für Hörspiel- und Ballettproduktionen, Orgel- und Kammermusik.

Achim Goettert, geboren 1951, lebt im Raum Nürnberg und befasst sich als komponierender wie auch als improvisierender Musiker vorzugsweise mit multimedialen Projekten. Seit Ende der siebziger Jahre arbeitet er mit eigenen Jazzgruppen, beständig mit der Latinband "Papa Cellente" wie auch mit -Formationen vom Duo bis zum Großensemble "The Improvisors Pool" Zu den Gästen von Achim Goetterts Projekten zählten Musiker wie Kevin Coyne, Conrad Bauer, John Tchicai, Uwe Kropinski, Günter Sommer, Hans Kennel und Kamalesh Maitra, Literaten und Schauspieler, u.a. Oliver Karbus, Tänzer wie Robert Wechsler und Jutta Czurda, bildende und Performancekünstler wie Grace Yoon und Duke Meyer. Achim Goettert komponierte für eigene Gruppen, Film, Theater und Hörspiel. Er ist Autor musikpädagogischer Werke und organisiert neben seiner Lehrtätigkeit bei Workshops, als Gastdozent an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg sowie als Leiter des Fachbereiches Jazz und Pop an der Musikschule Nürnberg Konzertreihen und Festivals, seit 1992 die Gostenhofer Jazztage in Nürnberg.

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