FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

OWN 90006

Markus Müller

 

Als John Cage 1937 prognostizierte, dass die "...musikalische Verwendung des Geräuschs andauern und zunehmen wird, bis wir zu einer Musik gelangen, die mit Hilfe elektrischer Instrumente erzeugt wird, die jeden wahrnehmbaren Klang für musikalische Zwecke verfügbar machen werden", hat er wohl kaum damit gerechnet, dass 1997 ein Trio eine CD veröffentlichen würde, auf der ein Sänger, ein Saxophonist und ein E-Gitarrist um die Wette geräuscheln.

Und auch wenn Erhard Hirt Elektrizität nutzt, um seine Gitarre in eine interaktive Geräuschbibliothek zu verwandeln, verweigern sich John Butcher und Phil Minton jeder Art von elektrischen Hilfsgeistern und dennoch hat man den Eindruck, als gäbe es nichts, und erst recht kein Geräusch, was nicht zur Verfügung stände. Diese spezielle Virtuosität, und im Falle von Phil Minton grenzt die Fähigkeit, die menschliche Stimme zwischen Schubert und Aluminium Schredder oszillieren zu lassen, an die Schnittstellen zwischen Wanderzirkus und den Tourneen der Drei Tenöre, ist nur deshalb erwähnenswert, weil sie im Rahmen der hier ausgeführten Praxis »Improvisation« zu musikalisch faszinierenden Resultaten führt.


Butcher, Hirt und Minton spielen seit gut sechs Jahren miteinander. Minton, mittlerweile eine Legende der englischen Improvisationsmusik, erfindet seit 20 Jahren die Stimme und ihre Rolle in der Musik immer wieder neu. In seinem langjährigen Duo mit Veryan Weston nutzt er immer wieder Liedstrukturen, in Kontexten wie dem hier diskutierten Trio arbeitet er mit Klängen und Geräuschen, die er im Sinne des Scat-Gesangs benutzt. Das hat wenig mit Ella Fitzgerald zu tun, man sollte sich eher vorstellen, man höre voll gekifft einer Abflussverstopfung zu. Komisch ist nur, dass das Ganze auch komisch, aber vor allem in diesem Trio ungemein gruppendynamisch und musikalisch ist.

Hirt ist im besten Sinne der Gitarrenprofessor der Improvisation. Die beiden Solo-Alben, die er in den letzten 13 Jahren veröffentlicht hat, zeigen (s. Linernotes zu Gute und schlechte Zeiten, FMP OWN-90003) die Haltung Webern: Hirt macht nur das, was nötig ist (und er weiß nur zu genau, mit welchem Wasser die Kollegen kochen). Im Trio mit Butcher und Minton ist er oft genug das Rückgrat und die Folie, auf der sich der musikalische Prozess weiterentwickelt. Er spielt, was nötig ist, und zwar sowohl in Hinsicht auf das Klangmaterial, als auch in Hinsicht auf Dynamik und Struktur. Zumindest im ersten Hörgang erschließen sich zunächst die flächigen Momente in Hirts Spiel, die Sounds, die er aushält und Butcher und Minton als Spielfeld anbietet. Dank diverser Klangwandlungsgerätschaften sind diese Sounds mitunter ebenso wenig zuortbar wie Mintons Gesang: eine Gitarre ist ein Sampler, ist ein Synthi, ist eine Orgel, ist eine Gitarre.

Im Laufe der Hörzeit wird allerdings überdeutlich, dass Hirt und Butcher ideale Spielpartner sind, weil sie kongeniale Vorstellungen von Ereignisdichte und Ereignisdauer haben. Sie öffnen und konzentrieren die Möglichkeiten der Musik. Minton illustriert und setzt Impulse, ist der cagesche Zufallsgenerator, der die anderen umtreibt und antreibt.

Butcher, dessen sexy Klangstoffanalysen ich an anderer Stelle die Gestalt gewordene neue englische Improvisation genannt habe, ist an den splitternden Saxophonen, mit seinem Universum an Anblas-, Überblas-Techniken und Flatterzungensprengseln, schon lange mit Minton im Gespräch. Im Trio spielt er allerdings auch mit seinem betörend langem Atem. Er stellt mikrotonale vielstimmige Klangkörperschichten in den Raum, aus denen Hirt und Minton neue Formate entwickeln. Er spielt auf dem Tenor- und dem Sopransaxophon zu diesen neuen Formaten wunderschöne MELODIEN aus der Familie: Marsh, Desmond, Lacy, Braxton. Mit Hirt wird er zum Architekten des schönen Augenblicks und manchmal setzt Minton eine Abrissbirne obenauf (dekonstruiert Minton, muss es wohl eigentlich heißen). Dabei ist wichtig, dass der Hörer die Geräusche nicht immer unmittelbar zuordnen kann, man hört in Unsicherheit über den Ursprung, aber mit der Sicherheit einer erlebbaren »Stimmigkeit«.

Das bedeutet auch, dass die Drei, bei aller Vielfalt des verwendeten Klangmaterials, diese Vielfalt organisch organisieren. Die Bedingungen des musikalischen Prozesses sind nachvollziehbare Aktions-/Reaktionsschemata mit einem hohen Grad an Verbindlichkeit wie auch Offenheit. So wird einerseits die Linearität einer Entwicklung deutlich, andererseits schwingen aber auch die möglichen Alternativen für den Hörer mit. So hört auch hier jeder sich selbst und immer wieder neu.

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